P. Franz Reinisch © E. Busse

Rückgrad zeigen – Gedanken zur seelischen Rückenschule

23.09.2010


Samstagvormittag in der Warteschlange vor den Kassen eines Möbelhauses. Plötzlich ein Schrei, danach lautes Weinen. Ein paar Kassen weiter stand ein junges Ehepaar mit einem ca. 20 Monate alten Baby. „Hast wohl noch nicht genug?“, brüllt der Mann. Dann schlägt er dem Mädchen mitten ins Gesicht. – Keiner der Wartenden reagierte. Eine Frau flüstert ihrem kleinen Sohn zu, dass sie gleich wiederkäme und kämpft sich durch die Wartenden zu diesem Ehepaar. „Sie haben eine sehr niedliche Tochter. Und sie dürfen sie nicht schlagen.“ Der Vater, mit einer Bierfahne umgeben, macht einen schwankenden Schritt auf die Sprecherin zu: „Das geht Sie gar nichts an! Das ist mein Kind! Damit kann ich machen, was ich will!“ – „Doch, das geht mich etwas an. Das ist Ihr Kind, stimmt! Aber es wurde Ihnen von Gott anvertraut. Das Kind ist ein Geschenk Gottes. Daher sollten Sie gut mit ihm umgehen!“ Die Mutter, erst sprachlos, schreit dann schrill: „Was wollen Sie eigentlich? Verschwinden Sie!“ – „Ich möchte, dass dieses Kind die Liebe bekommt, die es verdient. Die Kleine ist müde. Wir alle sind müde. Bestimmt hat sie Durst. Meinen Sie nicht auch?“ Dann drehte sie sich um. Die schweigende Menge schaute teils skeptisch, teils spöttisch, die meisten ausdruckslos. Als sie ihren eigenen Einkaufswagen wieder erreicht, zittern ihr die Knie. „Mama, mach das bitte nie wieder!“ flüsterte ihr Sohn zu ihr. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben.i

 

Die das erzählt hat, ist Christine Eichel, Journalistin beim Magazin CICERO. In ihrem Buch „Warum ich wieder bete. Das Ende des Zynismus“ erzählt sie von der persönlichen Wiederentdeckung des Glaubens nach Jahren des Zweifels. Eine praktische Konsequenz des lebendigen Glaubens ist die Einmischung. Auch wenn sie mit einer Portion Selbstironie das Kapitel überschreibt mit „Jean d’Arc im Westentaschenformat“, so bringt sie nicht nur das oben erwähnte Beispiel, sondern auch andere. Einmal hört sie beim Spaziergang hinter sich, wie ein Vater seinem ca. 15jährigen Sohn zuzischt: „Warte nur, bis wir zu Hause sind, dann kriegst du was mit dem Gürtel!“ Sie dreht sich um und spricht den Jungen, dem die Angst ins Gesicht geschrieben steht, an: „Du bist ein Kind Gottes, und niemand hat das Recht Dich zu schlagen. Noch bist Du diesem Mann ausgeliefert, aber bald lebst Du Dein eigenes Leben. Gott wird Dich erlösen.“ Der Vater ist perplex. „Was reden Sie denn da? Was Soll das? Ich habe nicht von Schlägen gesprochen.“ In dem Moment huschte ein Lächeln über das Gesicht des Jungen. „Ich wäre sehr glücklich, wenn ich mich getäuscht hätte. Sie sehen wirklich nicht so aus, als ob Sie es nötig hätten, Ihren Sohn zu schlagen.“ ii

 

Für Christine Eichel ist Zivilcourage eine praktische Konsequenz lebendigen Glaubens. Schutzbedürftige Menschen vor den Übergriffen von gefühllosen und brutalen Menschen zu schützen, das gehört für sie zur Nächstenliebe. Sie führt weiter aus: „Ich vollbringe keine Heldentaten. Aber ich bekenne mich, auch durch meine kleinen Interventionen. Die Kraft dazu schenkt mir das Gebet. Es öffnet mir den Himmel und gibt mir den Mut, wildfremde Leute anzusprechen, vor denen ich lieber Reißaus nehmen würde.“iii

 

Und sie verallgemeinert ihre Zeitanalyse: „Die allgegenwärtige Kinderfeindlichkeit ist die Signatur einer Gesellschaft, die einen heimlichen Neid kultiviert auf alles, was noch nicht dressiert ist.“iv

 

Wir schauen in dieser Nacht auf Franz Reinisch. Wir bewundern ihn als einen Menschen, der sich nicht gleichschalten ließ von einer verbrecherischen Diktatur. Er verweigerte den Fahneneid auf Hitler, weil er keinem Verbrecher einen Eid leisten wollte. Und er begründete diese Entscheidung mit der Berufung auf sein Gewissen. Mitbrüder aus seiner Gemeinschaft wollen ihn umstimmen und unterstellen ihm ein irriges Gewissen. Sie weisen hin auf viele Priester, die als Sanitäter zum Kriegsdienst einberufen wurden und den Fahneneid – sicher auch mit Vorbehalt – geleistet haben. Franz Reinisch durchleidet diese Einsamkeit seiner Gewissensentscheidung, aber er fühlt sich gerade im Gebet immer wieder neu bestätigt, dass dies sein Weg ist, ja sein muss.

 

Pater Kentenich analysiert – sicher auch die Entscheidung Reinischs im Hinterkopf – in einem Brief aus Chile vom 18. Oktober 1948 das Klima in Europa: „Um das Rückgrat des Charakters zu brechen und die Menschen willig zu machen, arbeiten die gegenwärtigen Weltmächte fortschreitend, mit steigender Angst- und Massenpsychose, wie wir sie in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft so entwürdigend empfunden (haben), obwohl wir ihr in ungezählt vielen Fällen in bedauernswerter Weise zum Opfer gefallen sind. Wiederum ein deutlicher Hinweis, ein unmissverständlicher Imperativ, ein eindeutiger Gotteswunsch, durch unzerreißbare innere Bindung, durch Vollentfaltung eines abgewogenen und ausgesprochenen inneren Bindungsorganismusses möglichst unempfänglich zu machen gegen solche Versklavungstendenzen mit ihrem zwingenden Machthunger.“v

 

Für Pater Kentenich waren ein Josef Engling oder ein Franz Reinisch solche Menschen, die erfolgreich den Nivellierungstendenzen ihrer jeweiligen Umgebung Widerstand leisteten. Auch wir sind eingeladen und aufgerufen, dem eigenen Überlebensreflex des Herdentriebs mit Misstrauen zu begegnen. Wer möchte nicht gerne zur siegreichen Mehrheit gehören? Schönstatt versteht sich als seelische Rückenschule. Pater Kentenich wollte Menschen erziehen, die Rückgrat zeigen, und voller Dankbarkeit darf er feststellen, dass es in vielen Ländern und in jeder Generation der Schönstätter diese Menschen gegeben hat, die so die Spiritualität Schönstatts in sich aufgenommen hatten, dass sie über sich hinaus gewachsen sind und eine Persönlichkeitsstärke entwickelt haben, die sie unabhängig von den jeweils geltenden Mehrheiten machte.

 

Bitten wir um den Hl.Geist, dass wir diese Rückenstärkung geschenkt bekommen und in Situationen, die es erfordern, Rückgrat beweisen.

 

(Predigt am 21.August 2010 in Kirchmöser-Brandenburg während der Reinisch-Vigil)
Literatur:

i Christine Eichel, Warum ich wieder bete. Das Ende des Zynismus. Güterlsoher Verlagshaus, Güterlsoh 2009, S. 154-157. Die wörtliche Rede ist im Originalton übernommen.

ii A.a.O. 160f. Die wörtliche Rede ist im Originalton übernommen.

iii A.a.O. 166.

iv A.a.O. 164.

v J.Kentenich, Oktoberbrief 1948, in: J.Kentenich, Christliche Zukunftsvision. Situationsbedingte Einzelbeiträge zu Grundsatzfragen. Bearb. V. Herta Schlosser, Vallendar-Schönstatt 1998, S.63.


 

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