© Theo Kröper

Sprung über den Gletscher

13.11.2011


Manchmal bleibt der Computer aus, die weltweite Verbindung wird gekappt und es entsteht Raum für andere Fragen:

 

Welche Sprünge sind notwendig in meinem Leben? Welche Eisschrauben habe ich in meinem Alltag? Für wen bin ich ein Fixseil? Fragen, die auftauchen, wenn Bergtouren zu Exerzitien werden.

Es ist noch Nacht, als uns der Wecker aus dem Schlaf reißt. Verschlafen schälen wir uns aus den Hüttenschlafsäcken. Wir treffen uns beim Frühstück, nicht jedoch, ohne vorher einen kurzen Blick nach draußen geworfen zu haben. Der Himmel ist wolkig, aber einzelne Sterne funkeln dazwischen hindurch. Ein leichter, aber eisiger Wind treibt uns schnell in die warme Hütte zurück. Wir, das sind mein Bruder Alfons, Harald und sein Bruder Peter W. und noch Peter M. Unsere Unternehmung: Eine Woche Wanderexerzitien in den Stubaier Alpen. Dabei möchten wir Bergtouren mit Exerzitien verbinden, etwas tun für den Körper und die Seele.

 

Gott sieht auf das Herz

Die Rucksäcke wurden schon am Vorabend gepackt und so sind wir nach dem Frühstück gleich marschbereit. Im Osten verkündet über der scherenschnittartigen Silhouette der Bergketten bereits ein heller Schimmer den anbrechenden Tag. Zu müde zum Reden gehen wir auf dem Pfad. Nach 20 Minuten wird uns langsam warm. Das ist der Zeitpunkt für die inhaltliche Einstimmung auf den Tag. Wir legen die Rucksäcke ins nasse Gras und Harald zieht sein Exerzitienheft und eine Postkarte aus dem Rucksack. Eine Frau ist abgebildet und ein Spruch aus dem Alten Testament. „Der Mensch sieht auf das Äußere, Gott aber sieht auf das Herz.“ (1 Sam 15,7). Wir betrachten die Karte im Morgengrauen, während Harald dazu besinnliche Gedanken vorliest. Damit werden wir uns heute beim Aufstieg beschäftigen. Mit einem kurzen Gebet wird die Einstimmung beendet. Bei kürzeren Touren sucht sich nach der Einstimmung jeder einen schönen Platz für Besinnung, Gebet und Betrachtung. Heute gehen wir jedoch sofort weiter. Die Gedanken kreisen um die Karte: „Der Mensch sieht auf das Äußere, Gott aber sieht auf das Herz.“ Fragen steigen auf: Nach was beurteile und verurteile ich die Menschen, die mir begegnen? Was nehme ich überhaupt von den Menschen wahr? Wie werde ich von den Anderen gesehen? Möchte ich überhaupt, dass die Menschen mein Herz sehen? ...

 

Großartige Schöpfung

Der Streifen am Horizont im Osten wird immer heller, die Wolken werden an den Rändern von den Sonnenstrahlen rot eingefärbt und werden immer weniger. Schönwetterwolken! Nach einer Wegbiegung liegt plötzlich vor uns ein grau-blau-weißer Gletscher. Automatisch bleiben wir stehen und genießen den Blick auf das gespenstisch stille Eismeer mit mächtigen Gletscherabbrüchen. Beim Weitergehen sehen wir den ersten Gipfel, der durch die Sonne beschienen wird. Nun wird es nur noch wenige Minuten dauern, bis die Sonne mit einem grellen, weiß-goldenen Punkt über den Bergkämmen der Dolomiten aufsteigt. Schweigend lassen wir die beeindruckenden Bilder der Landschaft an uns vorbeiziehen und nehmen die Veränderung von Licht und Farben auf. Es gelingt beim Gehen das richtige Tempo zu finden: Ein Atemzug, gleich drei Schritte und sechs Herzschläge: Ein meditativer Rhythmus. Ich winziger Mensch gehe hier inmitten der großartigen Natur und hinter all dem steht unser Schöpfer und unfassbarer liebender Gott.

 

Gut angebunden

Nach etwa zwei Stunden schauen wir auf den sich schier endlos dahin ziehenden Gletscher. Auf der gegenüberliegenden Seite erhebt sich in der Sonne ein Berg mit Gipfelkreuz, unser heutiges Ziel. Nach einer kurzen Pause werden Eispickel und Seil ausgepackt und die Steigeisen angelegt. Von nun an werden wir am Seil hintereinander gehen. Unter dem Eis gluckert immer wieder das Schmelzwasser. Vor uns tut sich plötzlich eine Gletscherspalte auf. Der Grund der Spalte ist nicht erkennbar. Wir suchen eine günstige Stelle, an der mit einem beherzten Sprung die Überquerung möglich ist. Wir gehen schweigend weiter. Die Gedanken werden durch den Sprung in eine neue Richtung gelenkt. Wo wird im Alltag immer wieder ein Sprung von mir gefordert? Gerade war ich von den Kameraden mit dem Seil gesichert, aber wie sieht diese Sicherung im Alltag aus? Wem kann ich vertrauen? Habe ich genügend Mut und das notwendige Vertrauen dazu, oder versuche ich mich vor diesen Sprüngen zu drücken? Wer braucht mich zur Sicherheit, damit er springen kann? Weiter oben erwartet uns eine neue Schwierigkeit. Ein kurzer, aber steiler Anstieg über eine Eisflanke liegt vor uns. Dieses Stück können wir nur an einem Fixseil durchsteigen. Gesichert mit Eisschrauben kommen wir langsam höher. Die Konzentration ist nun ganz auf die Kletterei gerichtet. Nach einigen Seillängen können wir wieder ohne Fixpunkte aufsteigen. Am Ende des verschneiten Gletschers gelangen wir in felsiges Gelände. Die Eisausrüstung bleibt am Rand des Gletschers zurück. So können wir mit leichtem Gepäck die letzten Meter zum Gipfel steigen. Am Gipfelkreuz mit herrlichem Rundblick haben wir Zeit zum Schauen und Staunen. Da kommt die Frage nach den Eisschrauben oder Fixpunkten im Leben. Wer und was sind für mich Fixpunkte, für wen bin ich eine Eisschraube? Gerne hätten wir noch lange in der Sonne gesessen und von diesem Platz aus den Sonnenuntergang genossen, aber leider müssen wir bald mit dem Abstieg und langen Rückweg beginnen.

 

Gott näher kommen

Am Spätnachmittag bei der Hütte, nach einem kühlen Radler und einer frischen Dusche, setzen wir uns etwas Abseits in die warme Abendsonne und erzählen vom Tag und von den Gedanken, die uns bewegten. Der Austausch ergänzt unsere eigenen Gedanken und führt sie weiter. Das Schweigen auf dem Weg ist für jeden von uns erholsam. Gedanken ankommen zu lassen, zu verfolgen und wieder ziehen zu lassen, ohne ständig von neuen Informationen und blitzlichtartigen Eindrücken abgelenkt zu werden, ohne ständig ansprech- und erreichbar sein zu müssen, ohne E-Mail und Telefon. Wir reden über unsere Familien und Freunde, die Arbeitskollegen und Arbeit. Es werden Erlebnisse und Begebenheiten aus dem vergangenen Jahr ausgetauscht. Wir müssen kein vorgegebenes Arbeitspensum und keine Inhalte be- und abarbeiten. Es gibt keine Zielvorgabe, die erreicht werden muss. Die Wanderexerzitien sind für uns eine Zeit, um abzuschalten und der Hektik und Betriebsamkeit des Alltags zu entkommen, eine Zeit zum Schweigen und zum Reden. Sie sind eine stille Zeit, in der Gott näher ist.

 

Aus: unser weg, Schönstatt Familienmagazin 2/2010

www.unserweg.com


 

© 2024 Klaus Glas | Impressum | Datenschutzhinweise