Foto: Peter Smola/ pixelio.de

Wie viel Liebe braucht ein Kind?

06.01.2014

 

Der kleine Mogli wuchs die ersten Jahre bei einer Wolfsfamilie auf. So jedenfalls steht's im „Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling. Aber es gab und gibt sie wirklich: „Wolfskinder“. Von ihren Eltern verstoßen, wachsen sie ohne menschliche Zuneigung in der Wildnis auf. Sie werden von Tieren adoptiert und von ihnen genährt und beschützt. Bekannt wurde das Schicksal der Geschwister Amala und Kamala, die 1920 im indischen Dschungel entdeckt wurden. Die neun und zwei Jahre alten Mädchen wurden von einer Wölfin verteidigt, die bei der Rettungsaktion getötet werden musste.

 

Das Leben der Älteren wurde wissenschaftlich begleitet. Kamala hatte einen ausgeprägten Geruchssinn. Am liebsten aß sie rohes Fleisch oder Aas, das sie aufgrund ihres ausgeprägten Geruchssinnes von weitem roch. Sie bewegte sich wie ein Hund auf allen Vieren fort. Anfangs ließ sie niemanden an sich heran und kratzte und biss die Betreuer. Es war nicht möglich, sich mit ihr zu verständigen: Sie war buchstäblich sprachlos! Man versuchte, ihr das Sprechen beizubringen. Aber nach sechs Jahren kannte sie gerade Mal 30 Wörter, die sie nur so lala aussprechen konnte. Über ihre Zeit in der Wildnis konnte sie niemals etwas erzählen - Erinnerungen fast sind nur mit Sprache möglich. Für Kamala war es schwer, überhaupt menschliches Verhalten zu lernen: so war der Schlaf-Wach-Rhythmus dauerhaft gestört, der aufrechte Gang konnte nicht mehr eingeübt werden. Sie verstarb mit 17 Jahren. Ihre jüngere Schwester lebte nur knapp ein Jahr.

 

Von Geburt an auf Beziehung angelegt

Mangelnde menschliche Zuwendung bringt nicht den „Naturmenschen“ hervor, den sich manche Philosophen erträumten. Stattdessen entwickelt sich ein „dauerhaft behindertes und verstörtes Wesen“, ist Lieselotte Ahnert überzeugt. Die renommierte Entwicklungs-Psychologin zieht aus den Berichten über die Wolfskinder das Fazit: „Ohne Betreuung und soziale Kontakte durch andere Menschen wird aus dem Säugling offenbar kein richtiger Mensch.“

 

Von Geburt an ist ein Kind vom Schöpfer-Gott mit Fähigkeiten ausgestattet, das es auf das Leben mit anderen Menschen vorbereitet. Das Neugeborene unterscheidet schon früh intuitiv zwischen einer Ding- und Personen-Welt. Stellen wir uns Martin vor, einen Jungen, der bei liebevollen Eltern aufwächst. Er kann unter unzähligen Farben und Formen menschliche Gesichter herausfiltern. Wichtiger noch, er zeigt eine Präferenz für Gesichter, das heißt: er mag sie besonders. Bereits vier Tage nach der Geburt kann er das Gesicht seiner Mutter von dem einer Fremden unterscheiden. Nur die freundlich-bewegten Antlitze seiner Eltern lösen bei ihm das erste „soziale Wiederlächeln“ aus: mit offenem Mund und leuchtenden Kinderaugen. Kein noch so schönes Mobile über dem Kinderbettchen vermag das.

 

Martin's Hörsinn ist ebenfalls sozial vor-justiert. Für Frequenzen der menschlichen Stimme sind seine Hörorgane besonders empfänglich. Mutters Sprachmelodie ist ihm ja schon aus den 40 Wochen in ihrem Bauch bekannt. Ihre Stimme klingt ihm wie Musik in den Ohren. Mit sieben Monaten kann er eine glückliche oder ärgerliche Stimme dem passenden Gesicht einer sprechenden Person zuordnen. Das zeigen Experimente von Psychologen.

Durch den dauernden Dialog mit Mutter und Vater wird das Kind angeregt, die Lautsprache nachzuahmen. So hält Martin - im Unterschied zu Wolfskind Mogli - im lange Babbel-Monologe. Mit zwei Monaten ist für Fachleute ein erster gesprächsähnlicher Austausch zwischen Mama und Martin erkennbar. Blicke, Mimik und Gesten der beiden sind aufeinander abgestimmt. Von nun an erwartet Martin auch, als Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Ist seine Mutter einmal depressiv verstimmt und in ihrer Mimik erstarrt, reagiert er irritiert und fängt an zu weinen.

 

Eltern und Kind in Liebe verbunden

Martins Mutter hilft ihm dabei, Angst und Ärger zu regulieren. Dazu muss sie da sein, verfügbar sein. Nur dann kann sie prompt reagieren, wenn er zum Beispiel weint. Eine gute Mutter reagiert in Windeseile. Sie braucht im Schnitt weniger als eine Sekunde, haben Forscher herausgefunden. Die schnelle Reaktionszeit ist wichtig, damit Martin Selbst-Wirksamkeit lernt, also das Gefühl entwickelt, etwas bewirken und verändern zu können. Geht Martins Mutter viel-hundertfach behutsam auf seine Äußerungen ein, entwickelt sich ein unsichtbares, liebevolles Band, das beide miteinander verbindet.

 

Wie tragfähig die Liebe geworden ist, kann man sehen, wenn Martin eine kurze Zeit von seiner Mutter getrennt war und es zum Wiedersehen kommt. Der durch den natürlichen Trennungsschmerz gestresste Junge krabbelt sofort auf seine Mutter zu und lässt sich von ihr trösten. Dann nimmt er beruhigt sein Spiel wieder auf.

 

Eine gute Mutter ist für ihre Kinder wie ein sicherer Hafen, der Schutz und Sicherheit bietet. Und ein guter Vater ist wie ein Kapitän, der seine Kinder mitnimmt auf große Entdeckungsfahrt. Martins Vater ist womöglich risikofreudiger und lässt ihn manches ausprobieren, was er bei seiner Mutter nicht dürfte. Sein Vater und seine Mutter haben gleichwertige, aber unterschiedliche Aufgaben im Elternteam.

 

Vier Früchte der Liebe

Ob ein Kind sich geliebt fühlt, kann man interessanterweise Jahre später auch in Stress-Situationen erkennen. Wenn aus Klein-Martin ein junger Mann geworden ist, der gerade in Schwierigkeiten steckt, wird er nicht gleich aufgeben. Weil er von seinen Eltern Liebe erfuhr, hat er die Überzeugung verinnerlicht „Ich bin nie allein!“ Es gibt noch drei weitere Früchte der Liebe. Zum einen die in der Seele schlummernde Grundstimmung, eine wertvolle Person zu sein. Wert dabei nicht verstanden im Sinne von Marktwert, sondern als von Gott geschenkte Würde. Wie Mogli spürt Martin mehr, als dass er es bewusst benennen könnte: Ich bin wertvoll!“ Zum anderen geht er, was seine Aufgaben betrifft, hoffnungsvoll in die Zukunft in der Gewissheit Ich hab' alles im Griff!“ Psychologen nennen diese gesundheitsfördernde Grundhaltung „Positive Illusion“. Sie schützt vor Depression und fördert den Glauben, dass es hinterm Horizont weitergeht.

Schließlich hat die elterliche Liebe eine lebensbejahende Langzeitwirkung. Martin pflegt eine gesunde Eigenliebe - und er möchte Liebe weitergeben. Er ist offen für andere und bereit, wie einst seine Eltern, eine Partnerschaft einzugehen. Der Dichter und Zeichner Wilhelm Busch hat diese schönste Frucht der Liebe wunderbar beschrieben:

 

"Das Schönste aber hier auf Erden
  ist: lieben und geliebt zu werden!"

 

Literatur-Tipp

Lieselotte Ahnert (2010). Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung, Bildung, Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.


 

© 2024 Klaus Glas | Impressum | Datenschutzhinweise