Computer-Maus © K. Glas

Sexuelle Versuchung: ein Mausklick entfernt

07.10.2009


Noch nie war sexuelle Versuchung so nahe wie heute - nur einen Mausklick entfernt. Früher musste man sich entsprechende Zeitungen kaufen oder bestimmte Milieus aufsuchen. Heute genügt die Eingabe eines Dateinamens oder einer Internetadresse, um "frei Haus" viel Nacktes und noch mehr Obszönes vor die Augen zu bekommen. Die Anonymität des Internets fördert, dass Familienväter, liebevolle Ehemänner, ausgelaugte Arbeitnehmer und -geber Stunden des Surfens im Internet verbringen, unglaubliche Bilder auf ihre Computer laden und manchmal auch Unsummen an Geld ausgeben. Die Unsichtbarkeit - du kennst mich nicht, du siehst mich nicht - reizt, nach dem einmaligen, kurzen Hinschauen langsam zu immer mehr und zu immer härteren Seiten zu kommen. Die Erregung nimmt zu, die Zeitdauer ebenso, und am Ende, nach dem Ausschalten, meldet sich die Scham: ein Gefühl, das empfindlich am Selbstbewusstsein knackt.

 

Herr Grüner, Sie haben das Institut für Konflikt-Kultur in Freiburg (www.konflikt-kultur-freiburg.de) gegründet. Basis Ihrer Arbeit ist die Erkenntnis, dass glückendes Leben nur dort entsteht, wo der Mensch sich in seinen Grundbedürfnissen verstanden und angenommen fühlt. Sie gehen von fünf Grundbedürfnissen aus. Welches Grundbedürfnis möchte sich der Mann erfüllen, der im Internet auf Seiten mit pornographischen Inhalten surft?

Herr Grüner: Ich sehe da zwei Bedürfnisse. Zum einen: In jedem Menschen lebt ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Beziehungen und das Leben in Beziehungen sind für manche Männer verunsichernd. Da ist es einfacher, ein Bild aufzurufen, ganz anonym, wo er sich auf niemanden einstellen muss. Damit schafft er sich die Verunsicherung vom Hals; er fühlt sich selbst wieder sicherer.

Jede Beziehung lebt zwischen dem Bedürfnis nach Liebe, Nähe und Zugehörigkeit und dem Wunsch nach einer gesunden Distanz. Beides muss immer wieder austariert werden. In der sexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau kann beim Mann das Gefühl entstehen, die Frau kontrolliert mich, ich bin abhängig von ihrem Wollen und Nichtwollen. Das anonyme Surfen im Internet kommt dann vermeintlich seinem Freiheitsstreben entgegen: "Mann" kann immer, wann er will, völlig frei und selbstbestimmt, nicht abhängig von der Frau. Er glaubt, hier sein starkes männliches Bedürfnis nach Macht und Kontrolle befriedigen zu können. Liebe, Nähe und Zärtlichkeit sind schwer; da ist er in Versuchung, zur Flucht ins Leichtere anzusetzen.

 

Hinzu kommt eine zweite Konfliktebene: Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Spaß, nach Spiel, danach, seine eigene Lebendigkeit zu spüren und zu genießen - also ein Bedürfnis nach Erregung. Durch das langjährige genaue Kennen des Partners, der Partnerin kann es sein, dass die Erregungskurve im normalen Alltag immer mehr verflacht. Da ein Mann normalerweise viel stärker als die Frau auf visuelle Reize reagiert und das Internet - je nach Seiten - diese Reize voll präsentiert, wird bei ihm durch dieses Medium leicht Erregung ausgelöst. Erregen kann auch die Lust am Verbotenen. Je stärker das Verbot, desto größer die Erregung. Dabei wird viel Dopamin ausgeschüttet, eine körpereigene Droge, die wie Kokain wirkt. Deshalb kann es auch, wenn dieser Wunsch nach Erregung ständig im Internet befriedigt wird, zur Sucht kommen. Dann wird der ganze Alltag darauf ausgerichtet, an diese Bilder zu kommen, und der Bezug zum normalen Alltag und die Beziehung zu anderen geht mit der Zeit verloren.

 

Frauen, deren Männer auf pornographischen Internetseiten surfen, fühlen sich schlecht. Sie erzählen: "Ich war schockiert, als ich es bemerkte, und sofort war da das Gefühl: Warum hat mein Mann das nötig? Bin ich nicht gut genug? Habe ich seine Bitten nach Intimität zu oft abgelehnt oder übersehen? Bin ich schuld an dieser Situation?"

Herr Grüner: Diese Gefühle sind verständlich, nur führen diese Fragen nicht weiter. Sie suchen nach einem Schuldigen und nicht nach einem neuen, gegenseitigen Verstehen. Wenn beide Konfliktparteien bereit sind, den Konflikt zwischen ihnen zu verstehen, dann ist dieser zu 80 Prozent schon gelöst; diese Erfahrung mache ich ständig.

Viel Gespräch ist wichtig, was ja ganz neue Bewegung in die Beziehung bringen kann. Fragen könnten sein: Können wir uns nicht so gut verstehen, dass wir beide einander reichen? Welche Bedürfnisse hast du? Welche Bedürfnisse habe ich? Probleme fangen immer dann an, wenn ein Partner das Gefühl hat, nicht offen reden zu können aus Angst vor Barrieren oder Vorwürfen. So ein Satz wie: "Krieg deine komischen Phantasien in den Griff!" provoziert das. Dann schweigt der Partner, aber damit ist das Thema nicht vom Tisch. Es geht in den Untergrund und wird zum heimlichen Thema. Also, fragen wir uns: Welche Bedürfnisse hast du und welche habe ich? Wie können wir ihnen Raum geben, wie können wir sie unter einen Hut bringen? Wissen wir denn voneinander, was jeden von uns anspricht und erregt? Ein spannendes Thema, über das wir reden dürfen. Das erfordert Einiges, hat aber viel mit Lebenslust und Lebensqualität zu tun, und zwar nicht nur für den Mann, sondern auch für die Frau. Auch für sie ist es lohnend zu merken, was ihr Freude, was ihr Spaß macht. Dann hat der Mann eine Spur, wie er seiner Frau Freude machen kann. Das Gefühl, sie lässt mich eben gewähren, sie macht nur mir zuliebe mit, ist um einiges weniger erfüllend, als eine Frau, bei der ihr Mann spürt: Sie hat Freude, sie hat Spaß, ich kann sie mitnehmen. Für einen Mann ist auch die erregte, die leidenschaftliche Frau, die "verführerische" Frau wichtig.

 

Zum Gespräch miteinander gehört auch, zu thematisieren: Der Computer ist nicht nichts, er beeinflusst unsere Beziehung total, er ist die "Rivalin" auf deinem Schreibtisch für mich. Wir stellen uns der Frage: Was bringt Leben in unsere Beziehung hinein? Wo müssen wir vielleicht ausgetretene Pfade verlassen? Wie kommen wir von den festen, langweiligen Schematas weg, die immer gleich ablaufen? Was waren oder sind in unserer Beziehung "Stereotypen"? Wie kommen wir weg von der Frage, was man darf und was nicht, hin zu der Frage: Was brauchst du, was brauche ich, und was führt uns tiefer zueinander? Also, die Wünsche betrachten und dahinter die Bedürfnisse entdecken.

Da möchte ich auch noch anmerken: Ich finde, dass die Kirche nicht unschuldig war an einer gewissen Einengung der Frau nur auf die Mutterrolle, an der Einengung, sie dürfe keine Lust empfinden. Die Frau auf nur ein Bild zu reduzieren wäre eine Verarmung.

 

Claudia Brehm: Ich glaube spätestens seit Papst Johannes Paul II. und seinen zahlreichen Texten, Ansprachen und Begegnungen mit Ehepaaren ist deutlich geworden, dass die heutige Kirche diese Einengung nicht möchte, im Gegenteil, dass es ihr ein großes Anliegen ist, die Liebe zwischen den Ehepartnern in ihrer ganzheitlichen Dimension zu sehen für Seele, Geist und Körper. Mich fasziniert zum Beispiel immer wieder, dass Pater Kentenich, der Gründer der Schönstattbewegung, schon in den 50iger-Jahren, als die Sexualität des Ehepaares ja wahrlich kein öffentliches Thema in der Kirche war, mit einer Selbstverständlichkeit und Offenheit formulierte: "... das vollkommenste Abbild des dreifaltigen Gottes sind an sich die Eheleute, und zwar im Augenblick des ehelichen Aktes" (30.01.1961).

 

Die Frage nach den menschlichen Grundbedürfnissen scheint wirklich die Schlüsselfrage zum gegenseitigen Verständnis zu sein: das Bedürfnis nach Sicherheit  und Orientierung, das Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit, das Bedürfnis nach Freiheit, Kontrolle und Einfluss und das Bedürfnis nach Spaß und Spiel, das auch in jedem Erwachsenen steckt. Könnten Sie uns noch etwas über das fünfte Bedürfnis sagen?

Herr Grüner: In jedem Menschen steckt das Bedürfnis nach Erfolg und Anerkennung, das Bedürfnis, sich wichtig und kompetent zu fühlen. Bei unserem Thema spielt dies insofern mit herein: Wenn Männer Angst vor Versagen haben, wenn sie das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein oder unter Erwartungsdruck stehen - der muss nicht durch die Ehefrau aufgebaut worden sein; meist erzeugen sie den Druck selber -, dann besteht die Gefahr, dass sie all dem ausweichen, indem sie sich vor den Bildschirm setzen. Der Erfolgsdruck fällt hier komplett weg, keiner hat eine Erwartung an sie, keiner bewertet sie. Das löst zunächst ihre Blockade, sie fühlen sich potenter, leistungsfähiger, sie erleben sich besser und sicherer. Danach allerdings, wenn dann die Scham kommt, wird der Druck wieder aufgebaut und das Versagensgefühl ist noch stärker als zuvor, das Bedürfnis nach Anerkennung ist noch größer geworden und die Erfüllung in weitere Fernen gerückt. Hier hilft nur das Sprechen über den Druck: Woher kommt er, wodurch wird er ausgelöst? Also ein gemeinsames Hinschauen ohne Scheuklappen auf die Dinge, die Angst machen und Druck erzeugen.

 

Insgesamt wünsche ich mir einfach, dass Frauen selbstbewusst mit dem Thema umgehen und nicht in Panik verfallen, denn eins ist sicher: Das Internet kann es langfristig mit keiner Frau aufnehmen; so wie eine lebendige Frau die fünf genannten Grundbedürfnisse erfüllen kann, wird es das Internet nie können!

 

Herr Grüner, herzlichen Dank für Ihre so gut nachvollziehbaren Ausführungen. Danke vor allem, das Sie konkrete Schritte aufgezeigt haben, wie ein betroffenes Ehepaar mit dem Problem Internetpornographie umgehen kann, wie es möglich ist, aus diesem zunächst unlösbar scheinenden Konflikt ein Sprungbrett in ein neues Verstehen und gegenseitiges Neuentdecken zu bekommen. Eines ist ganz deutlich geworden: Auch unabhängig vom Thema Internetpornografie ist es hilfreich, in allen Beziehungen, in denen ich lebe, nachzutasten, nachzuhören: Welches Grundbedürfnis spricht jetzt aus dem anderen und welches habe ich?

 

Das Interview führte Claudia Brehm
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen,1 /2009

www.zeitschrift-begegnung.de


 

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