© K. Glas

Gott und die Maus

25.12.2010

Liebe Kinder, liebe Jugendliche, liebe Erwachsenen

 

Als ich Anfang Dezember auf unseren Dachboden ging, um nach den Wintersportsachen zu schauen, fielen mir kleine Papierschnipsel auf dem Fußboden auf. Als ich der Sache nachging, musste ich feststellen, dass eine Maus sich durch die Seitentasche meines Wanderrucksackes genagt hatte und eine Tafel Schokolade genüsslich verspeist hatte, die ich dort drin vergessen hatte, als ich im September den Rucksack wieder auf den Boden gebracht hatte. Ärgerlich ist nur, dass die Maus auch den Reißverschluss zernagt hat.

Warum erzähle ich das? – Bei allem Ärger bin ich doch fasziniert über die feine Nase der Maus, die die Schokolade in der Rucksacktasche gewittert hat und dann keine Mühe gescheut hat, an diese Schokolade zu kommen.

 

Was für die Maus die Schokolade, das kann für uns Menschen Gott sein. Gott hat uns so geschaffen, dass wir potentielle Gottesgenießer sind. Das heißt, wir erleben uns dann als glückliche Menschen, wenn wir Gott ein bisschen ähnlicher geworden sind.

Das weiß jedes Schulkind: Wenn es etwas gelernt hat, was es vorher noch nicht wusste, dann fühlt es sich besser. Wenn man nach längerem Üben etwas kann, was man vorher nicht konnte, dann fühlt man sich besser. Warum?

 

Wer mehr weiß als vorher, hat mehr Anteil an Gottes Allwissenheit, ist ihm also ein bisschen ähnlicher geworden in dieser göttlichen Eigenschaft, und das tut gut.

Wer mehr kann als vorher, hat Anteil an Gottes Allmacht, ist ihm also ein bisschen ähnlicher geworden in dieser göttlichen Eigenschaft und das tut gut.

Wer verliebt ist, also jemanden liebt und sich wiedergeliebt erlebt, der fühlt sich wie im siebten Himmel, weil er dem Gott, der die Liebe ist, ein Stück ähnlicher geworden ist.

 

Schon der große Gottesgenießer und Gründer der Jesuiten, Ignatius von Loyola, hatte es auf den Punkt gebracht: Wenn wir Gott suchen in allen Dingen, in allen Verhältnissen, in allen Ereignissen,

  • dann sind wir auf dem richtigen Weg;

  • dann verwirklichen wir uns selbst;

  • dann werden wir zum Segen für andere;

  • dann werden wir glücklich:

 

Liebe Gottesdienstbesucher und Mitfeiernde

Was suchen Sie hier? - Bitte verstehen Sie das nicht als ärgerliche Frage eines misstrauischen Nachtwächters auf kirchlichem Betriebsgelände!

Was suchen Sie hier? –

  • Ob Sie nun sich durch die schöne Musik in Festtagsstimmung bringen wollen,

  • ob Sie nun gekommen sind, um an unbeschwerte Kindheitserlebnisse erinnert zu werden,

  • ob Sie nun gekommen sind, weil es am Heiligabend einfach dazu gehört,

  • ob Sie nun gekommen sind, um diesen Gottesdienst festlich mitzugestalten,

  • ob Sie nun gekommen sind, um das Glaubensgeheimnis von Weihnachten zu feiern -

wenn Sie die Sehnsucht in Ihrem Herzen genauer anschauen, dann ist es letztlich die Suche nach Gott, die Sie hier in diese Kirche geführt hat.

 

Was für die feine Nase der Maus der Duft der Schokolade, das ist für uns Menschen und unsere unstillbare Sehnsucht nach Gott und Göttlichem die Hoffnung, ihm hier an diesem heiligen Ort leichter begegnen zu können als anderswo oder zu anderen Zeiten. Deshalb haben wir uns auf den Weg gemacht durch Schnee und Eis. Wir sind von der stillen Erwartung getragen, dass es sich lohnt, zwei Stunden unseres Lebens an diesem 24. Dezember in diese Form der Gottsuche zu investieren, in der Hoffnung, ihm so zu begegnen, dass wir ganz erfüllt sind von ihm.

 

Gleichzeitig beobachtet so mancher in seinem Herzen aber auch eine gewisse Skepsis. Die aufgedeckten Skandale des letzten Jahres sind bei vielen nicht spurlos an der Seele vorüber gegangen. Wenn Menschen der Kirche das Vertrauen der Gläubigen missbraucht haben, um in Körper und Seele der Anvertrauten verheerenden Flurschaden anzurichten, dann ist die verständliche Reaktion darauf Wut, Empörung, Fassungslosigkeit. Zu dem, was uns verletzt, gehen wir instinktiv auf Sicherheitsabstand. Viele – auch solche, die gar nicht mal unmittelbar betroffen waren – haben mit diesem Schutzreflex reagiert. Für viele war dieser Sicherheitsabstand erst dann groß genug, als sie aus der Kirche ausgetreten waren. Nun arbeite ich ja schon seit Jahren mit Missbrauchsopfern, bei denen die Täter aus allen möglichen Kreisen stammen – meistens aus dem familiären Umfeld, aber eben auch leider kirchliche Mitarbeiter. Von daher kenne ich selber bei mir diese Reaktionen der Wut, Empörung und Fassungslosigkeit gegenüber den Tätern, wenn Menschen so viel Vertrauen aufgebaut haben, dass sie mit mir über ihre Verletzungen reden können. Ich denke an eine über 70jährige Frau, auch ein Missbrauchsopfer, die nach vielen Gesprächen selber über sich erstaunt war und sagte: „Dass ich je wieder zu einem Priester Vertrauen haben würde – das verwundert mich am meisten.“ - Ehrlich gesagt, mir wurden die Augen feucht, als ich bei meiner abendlichen Betrachtung an jenem Tag die Bedeutung dieses Satzes auf mich wirken ließ. Kirche war also nicht nur die Gemeinschaft der Täter und Vertuscher, sondern Kirche ist auch die Gemeinschaft der Seelsorger und Heiler. – Es hat mich schon befremdet, dass dieses Thema so wenig präsent war in der gesamten Diskussion: dass nämlich seit vielen Jahren Seelsorger in aller Stille und Diskretion die Wunden derer behandeln, die verletzt worden sind.

 

So stellt sich uns heute neu die Frage: Was ist Kirche eigentlich? – Um an meinem Erlebnis mit der Maus anzuknüpfen, möchte ich – etwas ungewöhnlich vielleicht – die Kirche bezeichnen als Verpackung des lieben Gottes. So wie die Schokolade eingehüllt ist in Papier und Folie, damit sie transportierbar ist, und wir nicht ratlos vor einem unförmigen, harten, drunkelbraunen Klumpen stehen, so hat sich der unendlich große Gott der Kirche anvertraut, damit sie IHN wohldosiert den Menschen nahe bringen kann. Die Wahrscheinlichkeit, IHM zu begegnen und IHN genießen zu können, ist

  • in schönen Liturgien,

  • in biblischen Texten,

  • in Gemeinschaften, die sich in seinem Namen versammeln,

  • im Einsatz für die Notleidenden

größer als sonst. Eine Kirche, die nicht mehr Gott in ihrer Mitte hat, eine Kirche, die sich nicht mehr versteht als Vermittlerin Gottes hin zu den Menschen, wäre unbrauchbarer Verpackungsmüll. Und so muss sich auch alles kirchliche Tun an diesem Qualitätsstandard messen lassen: Dient das, was wir veranstalten und tun, diesem Ziel? Deshalb hatte das II. Vatikanische Konzil die Kirche auch das Ursakrament genannt, aus der die anderen Sakramente fließen. Zu unserem Trost und zu unserer Entlastung behält sich aber der souveräne Gott auch vor, unmittelbar selbst die Menschen anzurühren und ihnen zu begegnen.

 

Ein Beispiel mag für viele stehen. Es handelt sich um den Sohn eines italienisch-stämmigen Pizzeria-Besitzers unweit von Göttingen: [Zitat]

 

“Und dann kam der 28. November 2005. An jenem Montagmorgen war Dario Pizzano im Auto auf der Landstraße von Seeburg nach Duderstadt unterwegs. Am Wochenende zuvor hatte er wie gewöhnlich viel Alkohol getrunken und fühlte sich „wieder einmal unruhig und gefangen in der Mechanik seiner negativen Gedanken.“ Während er sich dem fließenden Verkehr auf der Straße anpasste, redete er mit sich selbst und seufzte viel. Auf einmal kam ihm, der nichts mit der Kirche und Glauben am Hut hatte, der Satz über die Lippen: „Mein Gott, ich kann einfach nicht mehr“. In diesem Moment durchströmten ihn Licht, Freude, Wärme und Liebe. „Ich fühlte, dass jemand diesen Satz hörte und wusste plötzlich, dass es Gott gibt“, sagt Pizzano rückblickend auf jenen Tag, an dem er zu ersten Mal seit langem wieder weinen konnte: „Ich heulte mein gesamtes Leben raus. Alle Schleusen gingen auf. Es war so unglaublich schön.“

 

Das intensive spirituelle Erlebnis erfüllte ihn ungefähr zwanzig Minuten lang. Aber die Auswirkungen waren so stark, dass sie Pizzanos Werte und Weltanschauungen völlig verwandelt haben. „Ich habe mein Leben in einem ganz neuen Licht gesehen: Die vielen Lügen und Süchte, die oftmals oberflächlichen Beziehungen zu anderen Menschen, das Geld, die Suche nach Ehre, Liebe und Ansehen.“

Die Gotteserfahrung hat neue Perspektiven eröffnet, für ihn selbst und seine Familie

In den ersten Monaten nach seiner Gotteserfahrung las Pizzano rund 300 Bücher, in denen er nach Antworten suchte. Er wollte wissen, was ihm damals auf der Landstraße passiert ist, warum er sich „so zerrissen zwischen seinem alten und neuen Leben“ fühlte. „Ich kriegte die beiden Enden meines Lebens einfach nicht mehr zusammen“, fasst Pizzano sein damaliges Dasein ohne Perspektive zusammen. Während ihm die Arbeit im Szenelokal „Ambiente“ immer sinnloser erschien, beichtete er in dieser Zeit zum ersten Mal. Er lernte wieder zu beten und erinnerte sich an die Gebete seiner italienischen Großmutter. In einem Zisterzienserkloster in Bochum entschied er sich schließlich für einen neuen Weg, gab seinen Beruf samt Club auf und trennte sich radikal von seinem Milieu. 

 

„Als ich Gott erkannte, wurde ich Mensch und ich begann, auch andere Menschen als Geschöpfe Gottes anzuschauen und zu behandeln.“

 

Dieses Zeugnis kann uns zweierlei verdeutlichen:

Zum einen Macht es klar, dass Gott ganz souverän einzelne Menschen direkt berühren kann - wir nennen das: Er offenbart sich ihnen. Gott erklärt das Heil und das Glück eines einzelnen zur Chefsache und handelt unmittelbar, sozusagen mit links. Aber die rechte Hand Gottes ist und bleibt seine Kirche. Das ist seine Gemeinschaft, die er gegründet hat. – Es ist übrigens der größte Vertrauensbeweis Gottes an den Menschen, dass er sich in seiner Heilsvermittlung von Menschen abhängig gemacht hat, von Menschen, die gut sein wollen, aber immer auch Sünder bleiben. Das gilt in besonderer Weise auch für die kleinste Zelle der Kirche, die Familie. Gott hat der Ehe die Würde eines Sakramentes verliehen, damit der bevorzugte Ort der Gottesbegegnung der Ehepartner ist. Bei allen menschlichen Schwächen, die der Ehepartner hat – Gott spricht durch ihn und ER wirkt durch ihn. Und wenn er auf die Fehler des Partners nicht nur enttäuscht oder beleidigt reagiert sondern barmherzig, dann wirkt das befreiend für den, der Barmherzigkeit empfängt.

 

Wir haben jetzt das Umfeld sortiert, um den Blick frei zu bekommen auf das weihnachtliche Geschehen.

 

Wir dürfen uns freuen, dass Gott nicht als Erwachsener auf diese Welt gekommen ist und gleich seine Regierungserklärung und sein Programm verkündet hat, sondern als kleines, schutzbedürftiges Kind. Er wollte die Herzen erobern und König der Herzen werden.

 

Ich möchte einen Vergleich bringen:

Wenn ich Familien besuche und als großer, schwarzer Mann komme, dann kann es sein, dass die kleinen Kinder so im Kindergartenalter erst einmal Angst haben. Wenn sie dann aber den Löwen spielen dürfen und ich tue so, als ob ich Angst hätte, dann tauen diese Kinder auf und wollen gar nicht mehr aufhören mit diesem Rollenspiel. Das Eis ist gebrochen, sie holen ihre Bilderbücher her, und ich muss vorlesen. Dann gehöre ich dazu.

Was läuft dort ab? Versetzen Sie sich mal in die Perspektive eines 50 cm großen Kindes. Wenn ich mit meinen 189 cm vor dem Kind stehe, muss das ja riesig wirken. Angst vor dieser Größe ist die normalste Reaktion. Wenn ich dann in die Hocke gehe, ist der Unterschied nicht mehr so groß. Und wenn das Kind dann noch faucht wie ein Löwe und die kleinen Hände zu Krallen formt und ich zittere, als ob ich Angst hätte, dann fühlt es sich stark und mächtig. Es kann die Angst überwinden.

 

Nachdem ich einige Male gemerkt habe, dass es klappt, setze ich dieses Ankoppelungsmanöver bewusst ein, wenn ich Familien zum ersten Mal besuche oder wenn die Zeit seit meinem letzten Besuch zu lang geworden ist und sich die Kinder nicht mehr an mich erinnern können.

 

Dieses eigene Erleben hat mir einen neuen Zugang zu Weihnachten eröffnet. Theoretisch wäre es ja durchaus denkbar gewesen, dass Jesus Christus als Erwachsener auf diese Welt gekommen wäre, seine Botschaft verkündet, seine Wunder gewirkt, für uns gelitten und gestorben wäre. In unserer gegenwärtigen Kultur, wo Effektivität einen sehr hohen Stellenwert hat und Kinder oft nur als Kostenfaktor betrachtet werden, wäre ein solcher Plan der Menschwerdung Gottes irgendwie einleuchtend. Gott hat aber einen anderen Weg gewählt. Er kam als Kind auf die Welt – als kleines, hilfebedürftiges Wesen. ER wollte uns eine goldene Brücke bauen, damit wir uns leichter damit tun, IHM zu vertrauen.

 

Bei Gottes Entscheidung, diesen Weg der Menschwerdung zu wählen, kommt der Mensch Maria in unseren Blick. Sie ist die Mutter Gottes. Und sterbend am Kreuz wird ihr erwachsener Sohn seinen Lieblingsjünger und seine Mutter aufeinander verweisen.

 

Ich darf noch einmal auf mein Mäuse-Erlebnis vom Anfang zurück kommen: Die Maus hat mit ihrer feinen Nase die Schokolade gerochen und sich durch den Rucksack und die Verpackung durchgearbeitet. Und dann hat sie sich die Schokolade gegönnt. Ich möchte Sie bitten: Seien Sie nicht dümmer als die Maus: Unterscheiden Sie die Verpackung und den Inhalt! Unterscheiden Sie Gott und die Kirche! Nagen Sie sich durch das eine durch, um das andere genießen zu können!

 

Wir dürfen uns an Weihnachten der Idylle unserer Krippendarstellungen öffnen und hingeben. Wir dürfen Gott begegnen in der Gestalt des kleinen Jesus-Kindes. Wir dürfen Maria begegnen, die er sich als seine Mutter erwählt hat und die er uns allen zur Mutter gegeben hat. Sie ist der Mensch, der am innigsten mit dem Gottmenschen Jesus Christus verbunden war und ist.

Ich wünsche Ihnen ein Weihnachtsfest mit vielen innigen Begegnungen mit Jesus und seiner Mutter. Ich wünsche Ihnen, dass diese Begegnungen Ihre Herzen erfüllen und weiten.

 

Ich danke Ihnen, dass Sie immer wieder die Begegnung mit uns Priestern suchen. Ich danke Ihnen, dass Sie uns neu einen Vertrauensvorschuss schenken. Das erst ermöglicht uns Seelsorge in ihrer fruchtbarsten Form. Und damit bereichern und stärken wir uns gegenseitig.

An der Krippe können wir uns neu finden.

An der Krippe aber können wir vor allem IHN finden, der sich für uns klein gemacht hat, damit wir angstfrei ihm ganz nahe kommen können. Er hat sich das alles ausgedacht, damit wir IHN genießen dürfen wie die Maus die Schokolade.

 

Weihnachtsfest 2010 – St. Joseph/ Essen-Steele-Horst

 

P. Elmar Busse


 

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