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Den alten Eltern verzeihen

02.10.2022

Unser Leben ist stark von der Beziehung zu unseren Eltern geprägt. Mit der kürzer werdenden Lebenszeit auf beiden Seiten wächst vielfach auch das Bedürfnis nach Aussöhnung und Frieden. Wenn dieser Weg nur nicht so holprig und krisenanfällig wäre!

Dorothee Döring, Lebens- und Konfliktberaterin, ist überzeugt: „Versöhnung ist nicht nur christlicher Auftrag, sondern praktizierter Selbstschutz und eine wirksame Form von Seelenhygiene.“

Bevor man sich neu annähern und Wege zueinander finden kann, ist es wichtig, die gegenseitigen Vorwürfe genauer zu kennen, um dann – durch Einfühlung, gegenseitiges Verständnis und Perspektivenwechsel zur Aussöhnung zu finden. Ein Vorgang, der für beide Seiten von hohem Gewinn ist, vor allem für das Zur-Ruhe-Kommen in sich selbst sowie im alltäglichen Leben.

Was Kinder Eltern vorwerfen
Ihr habt mich nicht genug geliebt!“ – „Ihr hattet keine Zeit für mich!“ – „Ihr habt mich herabgesetzt!“ („So eine Niete hatten wir noch nie in unserer Familie!“ – „Aus dir wird nie etwas!“) „Ihr habt mir das Gefühl gegeben, unerwünscht und eine Belastung zu sein!“

Vielleicht war es auch so: Der Krieg hat die Eltern hart gemacht; sie mussten sich ums Überleben kümmern und hatten kaum Zeit und wenig Sinn für die für Kinder so notwendige Zärtlichkeit und das Verbringen gemeinsamer Zeit.

Ihr habt mich nicht ernstgenommen!“ Solche Gefühle müssen ausgedrückt, wahrgenommen und anerkannt werden. Werden sie ignoriert, verdrängt oder lächerlich gemacht, verletzt das, belastet das gegenseitige Vertrauensverhältnis und führt zu gegenseitiger Entfremdung.

Ihr habt mich nicht verstanden!“ Gefühlsmäßige Überreaktionen, die Streit erst gar nicht aufkommen lassen, weil Eltern „ausschlagen“ – aus Unsicherheit oder weil sie sich direkt angegriffen und infrage gestellt fühlen –, lassen Kinder verletzt oder mit dem Gefühl, irgendwie falsch zu sein, zurück.

Eure Scheidung hat unsere Familie zerstört!“ Durch die Trennung der Eltern wird das Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl vieler Kinder erschüttert. Neben Verzweiflung, Wut und Nicht-verstehen-Können haben sie dazu oft noch das Gefühl, selbst an der Trennung und dem Auszug eines Elternteiles schuld zu sein. Wird das Kind dann noch von einer Seite manipuliert und die andere Seite als Feind/in dargestellt, ist die Gefühlswelt des Kindes vollends überfordert, sodass es nicht selten mit Selbstzweifeln, Depression, Überempfindlichkeit und/oder Angst reagiert. Manchmal bieten in so einer Situation die Großeltern ein Stück Kontinuität und ein sicheres Nest – sofern sie durch die Scheidung nicht auch verloren gehen –; doch ersetzen können sie die Ursprungsfamilie nicht.

Sind die Vorwürfe gerechtfertigt?
Wichtig bei diesen und ähnlichen Vorwürfen ist zunächst nicht, ob und inwieweit sie stimmen. Deshalb sollten Eltern mit ihren erwachsenen Kindern auch nicht darüber diskutieren. Entscheidend ist, dass die Kinder (oder auch die Eltern) diese und jene Situation so empfunden haben. Es hilft also nicht, wenn Eltern beispielsweise sagen: „So war das doch gar nicht!“ Hilfreich wäre vielmehr: „Es tut mir leid, dass das so rüberkam. Wir wollten das nicht! Wir hatten keine Ahnung, dass das bei euch so ankommt.“

Eine Freundin erzählte mir neulich: „Ich hatte eine wirklich schwierige Kindheit, und selbst als erwachsene Frau gelang es mir nicht, meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, zu verzeihen. Eines Tages, als wir im Garten saßen, sagte ich ihr, dass vieles in meiner Kindheit durch ihr Verhalten sehr schwer für mich gewesen sei. Sie sah mich betroffen an und sagte: ‚Ja, das kann ich gut verstehen. Ich war mit meinen 17 Jahren völlig überfordert, dir eine gute Mutter zu sein.‘ Sie entschuldigte sich nicht, aber diese ihre Worte und besonders die Tatsache, dass sie meine Aussage und Gefühle stehen ließ und nicht wegdiskutieren wollte, leiteten einen Perspektivwechsel bei mir ein. Das wischte die gesamten negativen Gefühle der letzten Jahre auf einmal weg. Ich konnte meine Mutter als natürlicher Weise noch sehr mit sich selbst beschäftigte junge Frau sehen, die aus Überforderung heraus selbstverständlich anders mit einem Baby umging als eine reifere Frau. Meine Mutter und ich genießen unser neues entspannteres Verhältnis sehr.“

Rollentausch
Sind die Kinder erwachsen und die Eltern beginnen zu altern, kommt eine weitere Entwicklung auf die beiden Generationen zu, die sehr herausfordernd sein kann. Die Eltern sind in der Regel nicht geübt darin, um Hilfe zu bitten oder Hilfe anzunehmen. Den schleichenden Verlust ihrer Selbständigkeit hinnehmen und ihre Rolle als Gebende aufgeben zu müssen, bedeutet einiges an Lernen. Dass die Eltern immer mehr Einschränkungen ausgesetzt sind, registrieren die erwachsenen Kinder durchaus. Dass die bisherigen Rollen sich langsam, aber sicher bis hin zum Tausch verändern, überrascht sie dann dennoch und stellt sie vor neue emotionale und nicht selten auch zeitintensive Herausforderungen. Bis dieser Rollentausch von beiden Seiten akzeptiert und angenommen werden kann, gilt es einige Knackpunkte zu lösen.

Manche Eltern lassen keine Hilfe zu, obwohl es „ohne“ gar nicht mehr geht. Andere tendieren dazu, ihre Forderungen deutlich zu überziehen, rufen ständig an und wollen den Zeitpunkt bestimmen, an dem die Kinder ihre Wünsche ausführen sollen. Das bedarf des Redens und der Geduld. Wenn die Frage: „Wer kümmert sich um was bei den alten Eltern?“ bearbeitet werden muss, können unter den Kindern entweder alte Geschwisterrivalitäten neu aufbrechen – oder sie lernen einander neu schätzen.

Die Pflege der Eltern
Die Pflege der Eltern durch die eigenen Kinder ist heute eine Riesenherausforderung, da – im Gegensatz zur Generation vor uns – die meisten Frauen im Berufsleben stehen. „Nebenbei“ noch einen Angehörigen zu pflegen, ist kaum machbar. Die Tatsache, dass eigene Bedürfnisse und Lebenspläne durch die Übernahme der Pflege auf unbestimmte Zeit zurückgestellt werden müssen, macht die Entscheidung dazu nicht leichter.

Nachweislich sind es meist Töchter, die ihre Eltern – und hier häufiger die Mutter als den Vater, da Väter durchschnittlich früher versterben – pflegen. Manchmal spielt dabei die heimliche Erwartung mit, die vielleicht belastete Beziehung verbessern zu können, weil die Mutter ja jetzt für die erwiesene Pflege dankbar sein müsse. Die Realität zeigt leider, dass sich alte Konflikte durch die erschwerten Bedingungen der Pflege und der neuen Abhängigkeit eher verschärfen als bereinigen lassen. Plötzlich muss das Leben in einem gemeinsamen Haushalt erlernt werden. Die erwartete oder erhoffte Dankbarkeit, um die Mühe der Pflege besser verkraften zu können, bleibt oft auf der Strecke. Die Kriegsgeneration ist vielfach nicht gewohnt, Lob, Zuwendung oder Wertschätzung auszusprechen. „Wenn ich nichts sage, ist es schon recht!“ Solche Aussagen und Einstellungen bieten nicht viel Raum für das Wachsen guter Beziehungen. Überdies müssen pflegende Kinder oft noch ertragen, dass die weiter weg wohnenden Geschwister, die sich weitaus weniger kümmern, bei den alten Eltern emotional höher im Kurs stehen als sie selbst.

Gut für sich selber sorgen
Je größer die Kluft zwischen anstrengender Pflege der Eltern und ausbleibender Anerkennung, desto mehr Frust, Deprimiert-Sein und seelischer Stress auf Seiten der Pflegenden. Wichtig ist, sich in so einer Situation klar zu machen, dass ich das, was ich erwarte, nicht bekommen kann. Denn „Bedürftige“ können nicht geben. Nicht weniger wichtig ist, bei aller Sorge für die andere Person auch gut für sich selbst zu sorgen. Wen könnte ich zur Hilfe dazubekommen? Wer von den Geschwistern vertritt mich im Urlaub, damit ich einmal raus- und Abstand bekomme? Wie kann ich meinem Hobby Raum geben und regelmäßige Zeiten dafür sichern? Welche Außenkontakte möchte ich weiterhin wahrnehmen oder neu aufbauen? Wie kann ich meine Rede-, Erzähl- und Kraft-bekomm-Zeiten mit Gott sicherstellen?

Wegweiser zu Versöhnung und Neubeginn
Ein Sprichwort sagt: „Wenn du die Gegenwart umarmen möchtest, musst du die Vergangenheit loslassen.“ – Ein erster Schritt im Prozess der Versöhnung ist das Loslassen von Groll und die bewusste Entscheidung: „Diesen Zustand will ich nicht mehr! Und ICH kann etwas dagegen unternehmen!“

Ein weiterer hilfreicher Ansatzpunkt ist die Frage: Was haben meine Eltern gut gemacht? Was davon habe ich schon oder möchte ich gern künftig an andere weitergeben?

Eine Bekannte antwortete auf diese Frage: „Gar nichts! Aber eines muss ich ihnen hoch anrechnen: Sie haben mir das Leben geschenkt – und ich lebe so gerne!“

Eigenverantwortung übernehmen
Viele Menschen tendieren dazu, ihre vermeintlich schlechte Kindheit und damit ihre Eltern für das Leben, das sie jetzt führen, verantwortlich zu machen – allerdings nur, wenn sie ihr Leben beschwerlich und unbefriedigend finden. Sie kritisieren und weisen die Verantwortung, ihr Leben selbst zu gestalten, zurück. Vorteil? Sie müssen nichts tun, dürfen passiv bleiben, bekommen vielleicht noch Mitleid von anderen. Nachteil? Es ändert sich nichts. Ihre Unzufriedenheit wächst immer weiter. Hilfreicher ist die Einstellung: Ja, das und jenes ist zwar passiert, aber es liegt in meiner Hand, ob mich das mein Leben lang belasten wird, oder ob ich der Belastung hier und jetzt ein Ende bereite. Ein eigenverantwortlicher Mensch fragt, was er selbst im Rahmen seiner Möglichkeiten tun kann und wie die Veränderung geschehen könnte – anstatt nach Gründen zu suchen, warum es nicht gehen kann.

Ich lernte neulich eine faszinierende Frau kennen. Sie sagte: „Anstatt zu klagen: ‚Wenn ich diese Kindheit nicht gehabt hätte, wäre ich heute glücklicher!‘ sage ich lieber: ‚Wenn meine Kindheit nicht so gewesen wäre, wäre ich heute nicht so willensstark!‘“

Perspektivwechsel
Eltern agieren und reagieren in der Regel so, wie sie es selbst gelernt haben. Verstehen heißt nicht, Schlechtes zu rechtfertigen. Es heißt aber, den anderen zu sehen in der Bedürftigkeit und den Beschränkungen, in denen er lebt(e). Daraus wird klar, was ich erwarten kann und was nicht. Ganz wichtig dabei ist, die Zeit miteinzubeziehen, in denen Menschen groß wurden und lebten. Ich kann nicht vom heutigen Standpunkt des Wissens und der Entwicklung über frühere Verhaltensweisen urteilen.

Versöhnung ist lebenswichtig
Es liegt an uns, den erwachsenen Kindern, eine ausgewogene, differenzierte Sicht auf unsere Eltern einzunehmen. Sie sind weder die „Größten“, noch die „Letzten“. Verständnis für das Unvermögen der Eltern zu entwickeln und manches relativiert zu sehen, ist kein Ausgleich für den vielleicht erlittenen Mangel, macht aber innerlich frei, unabhängig und bereit, sich selbst das zu geben, was die Eltern nicht geben konnten. Es hilft, das Verhalten der Eltern neu zu bewerten und nachsichtiger zu sein.

Es ist ein natürliches Bedürfnis erwachsener Menschen, mit den Eltern Frieden zu schließen, etwaige Störungen und Belastungen auszuräumen und ein neues Miteinander und Gemeinschaft zu ermöglichen. Dass Vergebung und Versöhnung einen hohen Stellenwert einnehmen, wird nicht zuletzt im „Vaterunser“ deutlich. Eine seiner Kernbitten lautet: „Vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ In vielen weiteren Aussagen weist Jesus auf die Bedeutung des Vergebens hin. Und selbst Glücksforscher erkennen, dass die Lebenszufriedenheit des Menschen entscheidend davon abhängt, ob er verzeihen kann – als beste Prophylaxe gegen Verbitterung und Groll.

Maria, Mutter des Verstehens
Maria, die Mutter Jesu, ist eine bewährte Wegbegleiterin auf den Berg- und Talstrecken der späten Aussöhnung zwischen erwachsenen Kindern und ihren alten Eltern. Sie kennt beide Rollen, die des erwachsenen Kindes und die der reifen Mutter. Sie ist ständig ansprechbar für uns, denn ihr ist es wichtig, uns zu helfen, unsere Last in Proviant zu verwandeln, in Erfahrung, von der wir auf unserer Lebensreise zehren können. Sie möchte uns die Anerkennung schenken, auf die wir vielleicht ein Leben lang hofften, die wir aber nie erhielten. Sie will helfen, nicht in Verbitterung und Lähmung zu landen, sondern in Lebensfreude und voller Energie den Weg zu gehen, den Gott uns in seiner ganzen Fülle zugedacht hat.

In: BEGEGNUNG – Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 3/2020
www.zeitschrift-begegnung.de

 


 

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