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Vergeben und Versöhnen

18.05.2019


Bei der Recherche zu diesem Artikel habe ich einen Blick auf die Auswertung des „Values in Action – Fragebogens“ geworfen. Der Test, den die Uni Zürich auf www.charakterstaerken.org kostenlos zur Verfügung stellt, listet 24 Charakterstärken auf. Dazu zählt auch Vergebungsbereitschaft. Menschen mit dieser Stärke zeigen eine höhere Bereitschaft, anderen ihre Fehler zu verzeihen. Sie geben anderen eine zweite Chance. Ihr zentrales Prinzip ist Gnade, nicht Rache. Zu meinem Bedauern landet die Vergebungsbereitschaft auf dem letzten Platz.

Gedemütigt
Meine Gedanken gehen mehr als zehn Jahre zurück, als eine Person mir das Leben in einem Teilbereich so schwer machte, dass ich nachts vor lauter Grübeleien nicht schlafen konnte. Die erlittene Demütigung habe ich dem „bösen Mann“ bis heute nicht verziehen. Neulich, als ich ihn bei einer öffentlichen Veranstaltung wieder einmal sah, bemühte ich mich, ihn freundlich zu grüßen. Ob das der Anfang einer neuen Phase ist?

Möglich wäre es, denn Psychologen konnten zeigen, dass uns alleine die Vorstellung der Vergebung buchstäblich auf den Leib rückt: der Gesichtsausdruck entspannt sich, der Puls entschleunigt sich und der Blutdruck geht runter. In einem anderen Versuch konnten amerikanische Wissenschaftler weitere positive Auswirkungen durch einen mehrstündigen „Vergebungs-Workshop“ feststellen. Im Unterschied zu einer Vergleichsgruppe hatten jene Teilnehmer, die Vergebung einübten, weniger Kopf- und Rückenschmerzen, sie fühlten sich weniger durch Stress belastet und zeigten mehr Optimismus.

Im Gefängnis bleiben?
Wer den Groll gegen einen früheren Übeltäter ständig durch Hassgedanken „füttert“, der bleibt im Gefängnis der Hartherzigkeit sitzen. Manche trauen sich nicht zu vergeben, weil sie der Überzeugung sind, der andere habe ihre Abneigung schließlich zu Recht verdient. Dabei wird übersehen, dass Vergebung nicht heißt, das erlebte Unrecht zu vergessen oder zu verharmlosen. Vergebung beginnt aber gleichwohl damit, sich an die eigene Nase zu fassen und die Abneigung gegen den anderen nicht dauernd warm zu halten.

Wer beständig mit großer Betroffenheit erzählt, was andere ihm Schlimmes angetan haben, lässt im Grunde die Vergangenheit sein Hier und Jetzt bestimmen. So wird das erlebte Unrecht, die Demütigung im Grunde ständig wiederholt. Wer nicht verzeihen kann, schneidet sich am Ende ins eigene Fleisch: tatsächlich geht ein hartes Herz mit einem höheren Herzinfarktrisiko einher. Wer Hass im Herzen hegt, hat einen schnelleren Puls und einen höheren Blutdruck, was die Pumpe stärker beansprucht.

Vergeben lernen
Ist Vergebung die Lösung, die uns aus dem Teufelskreis der Vergeltung herausführen kann? Sonja Lyubomirski ist davon überzeugt. In ihrem Buch „Glücklich sein“ führt sie zwölf Glücksaktivitäten an, darunter das Vergeben lernen. Man solle sich an eine Person erinnern, die man selber mit Worten und Taten verletzt hat. „Egal, ob die Verfehlung frisch ist oder schon eine Weile zurückliegt, schreiben Sie einen Entschuldigungsbrief“, so die amerikanische Psychologin. Man könnte der Person zusichern, sein Verhalten zu ändern, eine Wiedergutmachung anbieten oder einfach fragen, was sie von einem erwartet. Ob man den Brief abschickt oder nicht, kann man selbst entscheiden.

Mitgefühl und Freiheit
Eine der besten Methoden Vergebung zu lernen, ist ein Vergebens-brief, den man nicht abschicken sollte. Man kann den Brief an lebende oder bereits verstorbene

Personen richten, die einem etwas Böses angetan haben. Frauen tun sich darin etwas leichter. Männer, so zeigen Studien, halten meist viel länger an ihrem inneren Groll fest. Doch es lohnt sich, den Füller in die Hand zu nehmen und im Detail aufzuschreiben, was einem widerfahren ist, und wie einen der andere verletzt hat. Man kann sich dabei an einen ruhigen Ort (Kapelle, Hausheiligtum, Parkbank) zurückziehen und zunächst Gott um die richtigen Worte bitten.

Während des meditativen Schreibens sollte man versuchen, Mitgefühl für den Übeltäter zu entwickeln. Was mag ihn/sie innerlich umgetrieben haben, dass er/sie so heftig wurde? Welche Stress-Belastungen führten dazu, dass er/sie so verletzend werden konnte? Je größer das Verständnis für die Sichtweise des andern, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass man ihm schließlich vergibt. 

Der frühere US-Präsident Bill Clinton soll bei einer persönlichen Begegnung den Anti-Apartheid-Kämpfer Nelson Mandela gefragt haben, wie dieser seinen Gefängniswärtern vergeben konnte. Mandela soll geantwortet haben, dass ihm bei seiner Freilassung nach 27 Jahren Haft – während des Durchschreitens des Gefängnistores – durch den Kopf gegangen sei: „Wenn ich diese Menschen weiter hasse, dann bleibe ich im Gefängnis!“

X.

In: unser weg. Schönstatt Familienmagazin 3/2014
www.unserweg.com


 

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