21.04.2025
Während meiner Studentenzeit stand ich einmal auf dem Bahnhofsplatz und wartete auf den Bus. Ein asiatischer Student stoppte vor mir abrupt sein Fahrrad und fragte mich unvermittelt, aber freundlich: „Haben Sie heute schon überlebt?“ Beim letzten Wort betonte er die erste Silbe, sodass ich nicht verstand, was er meinte. Er sagte, wir wohnten im gleichen Studentenwohnheim. An der Tür meiner Studentenbude habe ein Zettel geklebt, auf dem er diese Frage gelesen habe. Da musste ich lächeln, denn tatsächlich hatte ich geschrieben: „Heute schon gelebt?“
Heute schon gelebt?
Diese Frage beschäftigt mich bis heute, etwa wenn ich am Schreibtisch sitze und draußen spielende Kinder höre. Manchmal öffne ich ein Fenster und wage einen Blick auf das bunte Treiben draußen. Die Kleinen leben scheinbar im Hier und Jetzt. Mit Herz und Hand sind sie beschäftigt und erfreuen sich am Zusammensein mit den Spielkameraden. Während spielende Kinder im gelassenen Sein-Modus sind, befinden sich berufstätige Erwachsene oft im getriebenen Tun-Modus. Sie hetzen von einer Erledigung zur nächsten. Während einer ruhigen Minute geht der innere Blick in eine vermeintlich bessere Zukunft, in der man all das nachzuholen gedenkt, was man jetzt noch nicht bekommen kann. Wenn ich erst in Rente bin, beginnt für mich das Leben. Ich hab' endlich Zeit! Kann tun und lassen, was ich will. Meine Arbeitskraft brauch' ich nicht länger herzugeben für die Firma: Endlich stehen alle Räder still. Wenn ich erst in Rente bin, werd' ich all' das machen, wozu ich durch den Beruf nicht gekommen bin.
Gelegentlich kann Traurigkeit aufkommen, wenn man an seine Kindheit erinnert wird. Wenn ich Männer und Frauen frage, was der Nachteil beim Erwachsenwerden sei, antwortet sie: Dass man die Unbeschwertheit eingebüßt habe. Wenn man glaubt, man könne diesen Zustand nicht ändern, kann es einem gehen wie dem Protagonisten in dem Pop-Song „Ganz anders“. Eine Sentenz des Schriftstellers Ödön von Horváth aufgreifend singen Udo Lindenberg und Jan Delay: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm' nur viel zu selten dazu.“ Die schmerzlich erlebte Spannung zwischen dem geäußerten Ich und dem inneren Selbst wird in einer Liedzeile deutlich: „Du machst hier grad' mit ein'm Bekanntschaft, den ich genauso wenig kenne wie du.“
Auf die Haltung kommt es an
Wenn Sie im Internet die drei Stichworte „Charlie Brown Depression“ googeln, stoßen Sie auf eine Karikatur. Der bekannte Junge aus der Comicserie „Die Peanuts“ zeigt einem traurigen Mädchen aus der Nachbarschaft, welche Haltung es einnehmen muss, damit es seine Depri-Stimmung auch körperlich spüren kann: Charlie Brown lässt seinen Kopf hängen und die Arme kraftlos nach unten fallen. Auf keinen Fall - und er zeigt sogleich, was er meint - dürfe sie mit erhobenem Haupt stehen, weil sie sich dann sofort besser fühlen würde.
Der lustige Cartoon zeigt eine bekannte Wahrheit. Die Art und Weise, wie wir stehen oder gehen, beeinflusst unser Erleben und unsere Emotionen. Tatsächlich empfindet man in aufrechter Haltung mehr Stolz, wenn man gelobt wird. Nehme ich ein Kompliment in gebückter Haltung entgegen, kommt es nicht richtig bei mir an. Interessant ist ein Experiment, das der Sozialpsychologe Roy Baumeister mit Studenten durchführte. Diese legten eine anfangs eine Gammelhaltung an den Tag. Fortan sollten die Studenten zwei Wochen lang bewusst eine aufrechte, würdevolle Haltung im Stehen und Sitzen einzunehmen. Ergebnis: Die angehenden Akademiker erzielten gute Leistungen bei einer vorgegebenen Lernaufgabe. Zudem berichteten die jungen Leute, sie hätten mehr Drive (Antrieb), unangenehme Dinge des Alltags zu erledigen, wie etwa den Schreibtisch aufzuräumen. Die Körperhaltung beeinflusste die innere Haltung dem Leben gegenüber!
Erlöster aussehen
„Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: Erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!“, schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche. Weil die Körperhaltung unsere Motivation beeinflussen kann, empfehle ich, die Auferstehungs-Haltung einzuüben mit der Aufi-Übung. Stellen Sie sich aufrecht hin, wenn möglich mit Blick aus dem Fenster. Stellen Sie sich den auferstandenen Christus vor, beispielsweise so, wie ihn der Maler Matthias Grünewald im Isenheimer Altar dargestellt hat.
Atmen Sie ein und schwingen beide Arme langsam nach oben. Dabei denken Sie „Auferstehen.“ Wenn Sie die Arme ausatmend nach unten schwingen, denken Sie „Mit Dir!“ Beim nächsten Aufschwung denken Sie an Menschen, die Sie lieben: „Auferstehen“ und beim Ablassen der Arme „Mit Euch!“ Beim dritten Armschwung nach oben singen Sie innerlich „Halleluja!“, und beim Abschwung der Arme „Lobe den Herrn!“ Wiederholen Sie diese Abfolge dreimal hintereinander.
Wenn wir uns auf diese Weise über mehrere Wochen mit Christus, unserem Herrn, verbinden, können wir körperlich spüren, was der Apostel Paulus verspricht: „Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln.“ [Röm 6,4]
Achtsam sein
Christliche Achtsamkeitspraxis geht davon aus, dass der Gott des Lebens jeden Tag Spuren in unserem Alltag hinterlässt. „Jeder wirklich achtsame Mensch erkennt, dass alles ein Geschenk ist... Und wir reagieren mit Dankbarkeit auf diese kostenlose Wirklichkeit“, sagt der Benediktiner und spirituelle Lehrer David Steindl-Rast. Wer mit sich selbst achtsam umgeht, kann dem Nächsten aufmerksam begegnen. Probieren Sie es bei nächster Gelegenheit: Stellen Sie Ihr Smartphone auf „lautlos“ und lassen es in Ihrer Tasche. Legen Sie es auf keinen Fall auf den Tisch. Denn Studien zeigen: Wenn das Smartphone sichtbar ist, verringert sich die Qualität des Gesprächs. Es kommt nicht zur Resonanz. Hören Sie genau zu. Seien Sie präsent. Schauen Sie den anderen an, nicken Sie ihm bestätigend zu. Stellen Sie offene Fragen: Wer? Wie? Was? Das wahre Leben können Sie beide spüren, wenn Sie ganz im Hier und Jetzt sind. Vielleicht bedankt sich Ihr Gesprächspartner hinterher für's Zuhören. Und vielleicht spüren Sie selbst: „Heute hab' ich gelebt!“
Klaus Glas
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