Foto: Sr. M. Jutta Gehrlein

Tausend Geschenke

28.06.2019


Wie kann es einen gütigen Gott geben, wenn alles über mir zusammenbricht? Wie kann ich an einen liebenden Gott glauben, wenn ich über alles die Kontrolle verliere? Der Zugang zum Vertrauen ist für eine sechsfache Familienmutter die Dankbarkeit geworden.

„Durch das Fenster neben der Haustüre beobachte ich meine Eltern, die fassungslos am Boden knien. Im fahlen Novemberlicht sehe ich sie auf den Stufen der Veranda, wie sie den eingehüllten Körper in ihren Armen wiegen. Ich presse mein Gesicht gegen die Scheibe des Küchenfensters, spüre das kalte Glas, beobachte sie. Ihre Lippen formen Gebete, doch sie sind anders als unsere Gutenachtgebete, es sind Schreie zu Gott, ein Flehen um Auferweckung, Wiederherstellung, Wunder. Nichts geschieht. Auf kurzen Beinchen ist meine kleine Schwester den Weg entlanggelaufen, hinter einer Katze her. Der Fahrer des Lieferwagens hat sie nicht gesehen. Aber ich sehe sie, immer noch, ich kann den Anblick nicht vergessen. Ihr Körper, klein und zerbrech­lich, zerquetscht unter dem Gewicht des Lastwagens, mitten in unserer Einfahrt. In diesem Moment steht das Universum still. Hände, die entgegengenommen haben, schließen sich. Noch immer höre ich den Schrei meiner Mutter, sehe die aufgerisse­nen Augen meines Vaters, riesengroß und voller Entsetzen. Ihr Tod war ein Unfall, das verstanden wir. Aber wie konnte Gott diesen Unfall zulassen?“

Wie kann Gott das zulassen?

Der Unfall ihrer kleinen Schwester ist die früheste Kindheitserinnerung von Ann. Sie war damals vier Jahre alt, ihre Schwester gerade mal 18 Monate. Die Bilder suchen sie immer und immer wieder in ihren Träumen heim. Und schließlich wächst dieser Gedanke, wie ein gütiger Gott das

zulassen konnte. Wie kann es einen Gott geben, der barmherzig ist, wenn ein Kinderbett auf einmal leer bleibt, Nacht für Nacht? Wie kann dieser Gott gut sein, wenn kleine Kinder sterben, Krankheiten unsere Pläne durchkreuzen und Ehen aus­einanderbrechen? Diese Fragen prägen Ann, die mit der Zeit merkt, wie sich damals mit dem Grab der Schwester auch ihre Seele verschlossen hat und diese nun unerreichbar bleibt für jede Gnade. Die gesamte Familie zieht sich immer mehr zurück und entfremdet sich schließlich. Was Gott ihnen an jenem Herbsttag zuge­mutet hat, reißt tiefe Wunden. Eine weitere Verletzung möchte lange keiner riskieren.

Der Dank geht jedem Wunder voraus

Obwohl die Zweifel an Gott immer größer werden, sehnt sich Ann doch gleichzeitig nach seiner Anwesenheit. Sie sucht nach dem Schlüssel für das Leben in Fülle. Auf dieser Suche befindet sie sich auch noch als verheiratete Frau und Mutter, trotz Angst, Schuld, Depression und Traurigkeit. Eines Tages stolpert sie über den Begriff „Eucharisteo“, Danksagung. In diesem Wort verbergen sich die Worte „Charis“ und „Chara“, Gnade und Freude. Ann fällt auf, dass Jesus vor dem Brotbrechen, vor jedem Wirken und auch noch im Tod den Vater preist, ihm Dank gibt. Der Dank geht jedem Wunder voraus. Hiervon bewegt, begibt sie sich auf ihre ganz persönliche Glaubensreise. Sie beginnt eine Liste, ein

Blatt Papier, auf dem sie mit der Zeit 1000 Dinge aufschreibt, für die sie dankt. Völlig alltägliche Dinge, deren Niederschreiben sie ungeheuer befreit. Nachdem sie jah­relang von Angst geformt wurde, öffnet sie sich langsam der Gewissheit, dass sie Gott wichtig ist und er ihr mitten im größ­ten alltäglichen Chaos Wertvolles schenkt. Schritt für Schritt wächst ihr Vertrauen. Die 1000 Geschenke sind längst festgehal­ten, doch Ann macht weiter. Sie hat ihren Weg der Freude gefunden und kann sich mit der Vergangenheit aussöhnen.

Die Freude kommt im Danken

Anns Geschichte berührt mich tief. Neugierig geworden beginne ich, zunächst unsicher, meine eigene Liste zu schreiben: Morgenlicht auf der Fensterbank, Vogelgezwitscher, Blätterrascheln im Wald, das Reh, das plötzlich neben der Straße steht und zu mir rüberschaut, der Geruch eines uralten Buches …

Dankbarkeit verändert. Sie macht mich offener für die scheinbar normalen Dinge, hinter denen sich so viele kostbare Geschenke für mich verbergen. Ich merke, dass ich ruhiger werde und viel mehr lächele als sonst. Die Freude kommt im Danken. Nicht jeder Tag ist gleich einfach, es ist ein Auf und Ab. Manchmal gelingt es mir einfacher, manchmal klappt es nicht so gut und ich lasse mich ablenken. Aber der Blick für die unzähligen Kostbarkeiten in meinem Leben wird tatsächlich immer mehr geschärft. Den Stift in die Hand zu neh­men und den Dank aufzuschreiben, erfor­dert eine Pause im Alltag, ein Innehalten im hektischen Getriebe. Der Dank wird ein Weg, um in Gottes Gegenwart zu treten. Ein Weg der Kommunikation. Ein Weg des Betens.

Abgabe der Kontrolle

Meine Liste wächst: Der Duft von frischem Rosmarin, die „Mamaaa“ Rufe meiner Kinder, das Lächeln einer Passantin … Eine Packung Mehl fällt auf den Küchenboden und überzieht sofort den gesamten Raum mit einer Staubschicht. Ich bin genervt und ärgere mich über die zusätzliche Arbeit. Plötz- lich fällt ein Sonnenstrahl durch das Fenster und scheint direkt in den Mehlberg. Ich suche mein Heft und fange an festzuhalten: Mehlstaub, der im Sonnenschein wirbelt …

Manchmal sind die schönsten Momente im größten Chaos zu finden, wenn es mir gelingt, den Blickwinkel zu ändern. Ich gehe auf die Suche nach dem Schönen im Hässlichen und fühle mich reich beschenkt. Dankbarkeit wird ein Zugang zu meiner Gotteserfahrung. Dankbarkeit als eingeübte Haltung und nicht nur als Gefühl, damit wir tief in unserem Innern wissen, dass wir Gott vertrauen können, was auch immer auf uns zukommt. Wir haben nicht die Kontrolle. Erst wenn wir erfahren und uns erinnern, dass Gott uns im Kleinen Gutes möchte, können wir ihm auch vertrauen, dass er uns im Großen führen will. Er wird alles in unse­rem Leben schließlich zum Guten wenden.

In: unser weg. Schönstatt Familienmagazin 3/2014

www.unserweg.com


 

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