Sandstrand © K. Glas

Ein Hoch auf die Leere

16.02.2011


Bis vor Kurzem habe ich noch panisch auf das Wort „Leere“ reagiert. „Mama, im Kühlschrank herrscht gähnende Leere!“ Dieser Ausruf unseres Jüngsten setzte einen sich erhöhenden Adrenalinspiegel in Gang. Meine Hoffnung, die momentane Arbeit fertig machen zu können und mich heute nicht mehr ins ewige Staugetümmel unserer rheinischen verwinkelten Kleinstadt begeben zu müssen, schwand in Sekundenschnelle. Und zusätzlich flüsterte die hinterhältige Antreiberstimme in meinem Kopf: „Versagt! Nicht rechtzeitig den Kühlschrank aufgefüllt!“

 

Die Leere-Chance

 

Neulich lag ein Brief von einer Freundin im Briefkasten. Ein tolles Gefühl, unter Rechnungen und Werbeprospekten ein handbeschriebenes Kuvert herauszuziehen. Beim Öffnen fiel mir allerdings ein vollkommen leeres Blatt Papier in die Hände. Nachmittags rief ich die Freundin dann an, bedankte mich und sagte ihr, dass ich die Geheimschrift leider nicht entziffern konnte, was sie mir denn geschrieben habe? Wir hatten viel zu lachen, als sich das Missverständnis klärte. Auf jeden Fall hat der leere Briefbogen allerhand Gedanken für meine Freundin freigesetzt und uns das nette Gespräch ermöglicht.

 

Leer und ausgebrannt, so fühle ich mich am Ende der Woche nach all dem Hasten, Rennen und Erledigen. Statt der Freude, alles geschafft zu haben, was zu Beginn der Woche noch drohend vor mir stand, fühle ich mich kaputt und überlege schon, was nächste Woche wieder alles ansteht. Wie schön wäre es jetzt, einen leeren Terminplan zu haben ...!

 

Ich fange an, über diese Zusammenhänge nachzudenken, und langsam – ganz langsam – beginnt meine bisherige Panik einem neuen Gefühl der Leere gegenüber Platz zu machen:

 

Glücksgefühl Leere

 

Warum eigentlich muss der leere Kühlschrank obligatorisch sofort und direkt wieder aufgefüllt werden? Die Leere setzt neue Ideen und damit neue Erfahrungen frei. Wir essen jetzt hin und wieder mal einfach nur Brot – ohne Butter, ohne Käse, ohne Wurst – nur „so“, pur, wie unser Sohn bemerkt. Und es schmeckt wunderbar! Wir essen langsamer, wir essen genüsslicher, wir lassen uns mehr Zeit. Wir stehen ausgeruhter vom Tisch auf. Wir stellen fest, dass wir den typischen Brotgeschmack oft gar nicht mehr wahrnehmen, weil er so überlagert ist vom Butter-, Käse- oder Wurstgeschmack. Wie gut tut es, nur eine Sache zu genießen und mit allen Sinnen dabei zu sein – das ist voll erholsam! (Unser Sohn stellt übrigens noch einen weiteren wichtigen Pluspunkt fest: Für ihn gibt es längst nicht so viel zum Abräumen wie sonst!)

 

Eine weitere „Happy-Leere-Situation“

 

Ich haste zum Einkaufen. Auf dem Zettel stehen nur Milch und Eier. Ich liebe fast leere Einkaufszettel. So könnte ich es gerade noch rechtzeitig schaffen, Pfannkuchen zu backen, bevor die Kinder mit Freunden zum Mittagessen kommen. Doch was ist hier los? Nur zwei Autos auf dem Parkplatz, nur drei Personen im Geschäft und keine Schlangen an den Kassen? Leere Geschäfte, in denen man durchstarten kann – welche Wonne!

 

Ich komme heim in ein leeres Haus! Das ist mein Moment! Schnell aufs Sofa (Wäschekorb runterstellen, Zeitung auch). Füße hochlegen, eine Minute an die Decke starren, nichts sehen (vor allem nicht die Spinnwebe in der Ecke), Gedanken laufen lassen! Tut das gut! Toll, wie lang eine Minute doch ist. (Im Tagesverlauf fehlt sie mir gewiss nicht, aber mein Ruhekonto füllt sie in kurzer Zeit unglaublich an).

 

Mit neuer Kraft geht's an die Pfannkuchen (na ja, aus leeren Schubladen kochen, weil das Geschirr noch ungespült da steht, ist jetzt nicht so prickelnd ...!).

Mit einem glücklichen: „Mama, schau mal, mein Hausaufgabenheft ist fast leer; wir haben heute gar nicht viel auf!“ springt unser Jüngster mit seinen Freunden zur Tür herein! Grandios, der Zwei-Stunden-Hausaufgabenmarathon bleibt mir heute also erspart! Da die Freunde dabei sind, entfällt auch das Vorlesen nach dem Essen. Was mache ich nun mit der leeren Zeit? Vorsicht! Nur nicht gleich wieder ausfüllen mit irgendwelchen „ach so dringenden“ Arbeiten! Stattdessen etwas lesen, zehn Minuten an die frische Luft gehen oder ein Schläfchen machen – abtauchen in die Leere! Ah, tut das gut!

 

Nun schnell den Kuchen backen, da Susanne nachher kommt. Gerade als ich ihn aus dem Ofenloch ziehe, ruft die Nachbarin an. Ob ich mal kurz rüberkommen könne? Sie will mir Bettwäsche und Tischdecken vererben, weil bei ihr alles so voll ist! Schöne Stücke! Aber bei mir ist auch alles voll. Warum noch mehr reinpressen? Nur weil das Design modischer aussieht? Besitz ist einerseits schön, aber andererseits auch Ballast; er hängt sich an mich und lässt meine Schritte schwerer vorwärts kommen. Nach der Hochzeit lagen in unserem Schrank nur eine Tischdecke, eine Garnitur Bettwäsche und zwei Handtücher. Und wir waren so stolz drauf. Das Herausholen und Auflegen haben wir zelebriert! Aus der Traum! Ob ich nicht mal wieder räumen sollte? Der Kleidercontainer in der Straße über uns freut sich über Fülle. Das Erlebnis fasziniert mich immer wieder neu: Räumen in der Wohnung oder in Schränken setzt innerliche Räumaktionen in Gang – und das Gefühl von Leichtigkeit entspannt wie kaum etwas sonst!

 

Leerer Kuchenteller

 

Da schallt mir ein begeisterter Ruf entgegen: „Mama, danke, der Kuchen war echt prima, wir haben alles leer gegessen! Der sah so schön klein aus, der war doch bestimmt für uns!“ – Nein, nicht dieser Kuchen ...! Doch – weg ist weg! Jetzt kann ich mich entscheiden: Wutanfall oder – passend zu den heutigen Tageserkenntnissen – Freude über die Leere?! (Übrigens: Der Tee mit Susanne – ohne Kuchen – schmeckt später köstlich, und Susanne ist zur Zeit sowieso auf Diät. Ein Hoch auf die Leere!)

 

P.S. Der Gipfel dieses glücklichen „Leere-Tages“ ist die Gute-Nacht-Geschichte am Abend, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:

 

Die Legende vom tiefsten Raum

Es war einmal ein König, der war bei seinem Volke geachtet und beliebt. Er besaß eine große Schatzkammer, und es machte ihm Freude, seinen Untertanen daraus zu geben, was sie brauchten. Der König hatte allerdings eine Eigenart, die seine Umgebung befremdete. Einmal am Tag, meistens am Morgen, ging er dann in den untersten, den tiefsten Raum seines Schlosses. Dort blieb er für längere Zeit. Jedermann rätselte, was er wohl in diesem Raum tat. Niemand außer ihm durfte diesen Raum betreten. Als der König alt geworden war und sein Ende kommen fühlte, rief er seinen Sohn , um ihm die Herrschaft zu übertragen. Schließlich führte er ihn auch in jenen Raum, den er täglich selbst aufgesucht hatte. Wie überrascht war der Sohn, als er seinen Fuß hinein setzte: Der Raum war fast leer.

 

Der König bat seinen Sohn, er möge die Nacht in diesem Raum verbringen. Am nächsten Morgen stieg er hinunter und fragte ihn: „Was wirst du mit diesem Raum machen, wenn ich gestorben bin?“ „Ich werde ihn zumauern lassen“, antwortete der Sohn. Da bat ihn der Vater, eine weitere Nacht darin zu verbringen.

Wieder fragte der Vater ihn am Morgen: „Was wirst du tun mit diesem Raum, wenn ich gestorben bin?“ Der Sohn antwortete: „Die ganze Nacht habe ich hin und her überlegt, wie ich diesen Raum füllen kann, aber ich weiß nicht wie.“ Da bat ihn der Vater, noch eine dritte Nacht in der Kammer zu verbringen.

Als der König am Morgen hinunterging, lag sein Sohn friedlich am Boden und schlief. Ein letztes Mal fragte der Vater: „Was wirst du machen mit diesem Raum, wenn ich gestorben bin?“ Da antwortete der Sohn: „Ich werde wie du jeden Tag in diesen Raum einkehren.“

 

Kurz darauf starb der König, und der Sohn regierte so gut wie der Vater. Immer hatte er genug, um jedem zu geben, was er brauchte. (Quelle unbekannt)

 

Dieser Tag und die Geschichte haben mich doch sehr ans Nachdenken gebracht, gerade im Hinblick auf die bald beginnende Fastenzeit.

 

Fastenzeit – Zeit der Leere, um die Fülle wieder zu spüren?

 

Die Fastenzeit macht mir jedes Jahr neu das Angebot, einen Mangel zu spüren und das Warten auf Erfüllung auszukosten. Es geht darum, fühlfähiger zu werden für das, was mir fehlt. Für die Wünsche, die sich auch mit dem größten Geldbeutel nicht erfüllen lassen. Für die Sehnsüchte, die aus meinem Inneren kommen und mir den Weg weisen zu mir selbst und zu meinem Auftrag in dieser Welt. Geht es nicht darum, meinen inneren Raum offen zu halten, leer zu halten, damit das „Mehr als alles“ – und der „Mehr als alles“ – Platz finden und mich anfüllen kann?

Deshalb will ich mich nicht zufrieden geben mit dem schnellen Genuss der Zigarette, der kompletten Schokoladentafel, dem unmäßigen Kaffeeverbrauch, den vielen unnötigen Einkäufen, dem siebten T-Shirt und der sechsten Hose. Ich will leben! Leer lassen den Platz, den diese „Alltagssüchte“ für sich beanspruchen. Gespannt darauf warten, womit ER diesen Platz füllen möchte. Auf seine Stimme hören!

 

Erfüllt – statt vollgepfropft

 

Erfülltes Leben – gegenüber dem Leben der schnellen Lust- und Triebbefriedigung – braucht beides: die Fähigkeit zu genießen und die Fähigkeit zu verzichten. Wir dürfen mit beiden Möglichkeiten umgehen lernen wie der Autofahrer mit Bremse und Gas. Beide sind zum Fortkommen wichtig. Und sowohl das Genießen als auch das Verzichten sind Wege, um mit weniger Konsum mehr Lebensqualität zu gewinnen. Das gilt nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Kinder. Kinder, die gelernt haben, zu verzichten, neigen seltener zu Lieblosigkeit oder übertriebener Anspruchshaltung. Sie sind eher fähig, Gefühle der Lust und Unlust zu kontrollieren. Kinder und Erwachsene, die genießen können, brauchen nicht so viele Spielsachen und „Drumrum-Gegenstände“ – denn solange ich das Eine noch nicht in allen Zügen genossen habe, brauche ich nicht schon wieder etwas Neues, was meinen Lebenshunger (genauso wenig) stillt! Je jünger unsere Kinder sind, desto wichtiger ist für sie genießen zu können, Zeit zu haben. Sonst hetzen wir sie durch ihre Kindheit – und wenn wir sie hetzen, ist keine gesunde Entwicklung möglich. Entwicklung braucht Zeit und Geduld. Zeit haben oder Zeit bekommen, schafft Zufriedenheit. Zufriedenheit schafft Dankbarkeit. Beide helfen, das Lebenstempo zu verringern und gelassen zu sein angesichts der Dinge, die wir nicht haben.

 

Vielleicht sollte meine Fastenzeitgestaltung das Genießen der Leere im Blick haben – und das Verzichten auf Unnötiges, Zweitrangiges, Aufdringliches:

- Werbeprospekte entweder direkt ungelesen entsorgen oder sie genau studieren, sich genüsslich zurücklehnen und wie Sokrates lächeln: „Wie schön, zu wissen, was ich alles nicht brauche!“

- Den Ehemann, jedes einzelne Kind, den/die Arbeitskollegen genießen, indem ich ihn / es / sie groß sehe und ihnen Zeit zugestehe, manches noch entwickeln zu dürfen.

- Unausgefüllte Zeiten, Lücken und Leere – bei Rot an der Ampel, im Wartezimmer, an der Kasse – mit dem Lauschen auf seine Stimme ausfüllen.

- Einfaches Essen kochen und das bewusst genießen.

- Auf Hetze verzichten, tief einatmen und in Ruhe weitergehen, weiterarbeiten.


Ein Hoch auf die LEERE in der Fastenzeit!

 

Aus: BEGEGNUNG – Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 1/2011

www.zeitschrift-begegnung.de 


 

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