leben statt hetzen © K. Glas

Hetz mich nicht - Leben im anderen Rhytmus

27.03.2010

 

Zu einer Zeit, als es nachts noch keinen ärztlichen Notdienst gab, erzählte die Frau eines Landarztes: "Wenn mein Mann nachts zu einem Notfall gerufen wird, zieht er sich ungewöhnlich bedächtig an. Mich macht das ganz nervös, denn sonst ist er viel schneller. Einmal habe ich ihn gedrängt, sich doch zu beeilen. Seine Reaktion war: 'Hetz mich nicht, es ist ein Notfall!'"

Indem dieser Arzt sich bedächtig fertig machte, stellte er sich innerlich ein auf den Patienten, dessen Krankheitsgeschichte er meist kannte. Dann konnte er vor Ort oft schnell richtig handeln. Er war für seine sicheren Diagnosen bekannt.


Wo Verlangsamung hilft, innerlich "ganz da" zu sein, ist sie der schnellste Weg. Hier zur Beschleunigung getrieben zu werden, bedeutet Hetze. Hetze entsteht, wenn wir schneller sein oder mehr leisten sollen (oder wollen) als wir können. Wir fühlen uns getrieben und kommen nicht mehr nach. Je schneller wir werden, umso häufiger verspäten wir uns.


Hetze schadet

Ein gehetztes Leben wird für immer mehr Frauen zum Dauerzustand. Der Körper reagiert entsprechend: Kreislaufbeschwerden, verspannte Muskulatur oder die Verdauung macht Probleme. Wer sich unter Druck fühlt, tut alles hastig und verkrampft und will nur eines: irgendwie durchkommen.


Pater Kentenich spricht von "seelenloser Betriebsamkeit", die vor allem Frauen krank macht. Ihnen fällt es in der Regel noch schwerer als Männern, im Leistungstakt zu "funktionieren". Weibliche Art kann die Einbuße an Lebensqualität, die eine solche Überforderung bedeutet, nicht einfach wegstecken. Pater Kentenich sagt es aus vielfacher Erfahrung: Wenn eine Frau "zu stark hetzen muss, dann verliert sie die Tiefe, die Anmut und damit die Anziehungskraft. Man wird dann schnell eine Maschine".


Auch die Freizeit ist oft ein Stressfaktor: Einkäufe stehen an, die Freizeitaktivitäten der Kinder müssen organisiert, Kontakte mit Verwandten und Freunden gepflegt werden. Nicht selten kommt die intensivere Sorge für alte Eltern dazu. Will man sich dann noch ganz persönlich etwas gönnen – einen Kurs bei der Volkshochschule zum Beispiel –, wird auch das oft zum anstrengenden Muss. Denn bis zum Kursbeginn sind andere Dinge dazugekommen, die auch noch zu bewältigen sind.


Der Zeitforscher Karlheinz Geißler, emeritierter Professor der Bundeswehruniversität München, beobachtet: Menschen, die sich gehetzt fühlen, sagen bei allem "Ich muss". "Ich muss den Einkauf noch erledigen, ich muss den Film noch schauen, ich muss den Besuch noch machen ..."

Wer sich so unter Druck fühlt, wird am wenigsten an einem interessiert sein: an unvorhergesehenen Unterbrechungen, die einen aus dem Takt bringen. Aber gerade das wäre die Lösung: Aus dem Leistungstakt aussteigen, um Zeit zu haben für das wirklich Wichtige im Leben.


Ein anderes Zeitgefühl

Kinder und alte Menschen sind hier optimale Lehrmeister, sofern die Gesellschaft sie nicht als Störung im Betriebsablauf beiseite schiebt. Ein Kind lässt sich nicht takten, je kleiner es ist, um so weniger. Es kann sich nur schwer vom Spiel losreißen, obwohl es höchste Zeit zum Aufbruch ist. Es will zu Ende spielen, erst dann ist es bereit für Neues. Die "andere" Zeitrechnung der Erwachsenen, dass es Wichtigeres gibt als Kinderspiele, kann es noch nicht verstehen. Oder es bleibt in der Fußgängerzone fasziniert vor einem Marionettenspieler stehen und staunt. Die Mutter ruft, die Mutter zieht es weiter – die Zeit ist knapp. Das Kind weint, sperrt sich. Es kann nicht verstehen, dass man es von so etwas Herrlichem wegreißt, nur um weiterzuhetzen. Kinder haben eine andere Zeitrechnung.


Ähnlich der alte Mensch. Er kann bei den schnellen Zeittakten unserer Gesellschaft oft nicht mehr mit. Die knappen Ampelschaltungen mancher Fußgängerüberwege machen es ihm schmerzlich bewusst, doppelt, wenn er auf den Rollator angewiesen ist. Doch dafür lebt er in größeren Dimensionen. Kommt die Rede auf die Vergangenheit, kann er mit leuchtenden Augen erzählen. Das Glück, die Dramatik, die Größe des menschlichen Lebens wird in solchen Augenblicken neu Gegenwart, oft mitten in der Routine einer Umgebung, die durch ihr Zeitplannetz gerade mal die nächsten Stunden im Blick hat.


Der Stoff, aus dem die Ewigkeit gewoben wird

Kinder und alte Menschen werden in unserer Gesellschaft zu Zeichen eines menschenwürdigen Umgangs mit der Zeit: Wir Menschen sind nicht geschaffen, um ameisengleich durchs Leben zu hasten und irgendwann ausgelöscht zu werden. Unser Leben steht in anderen Koordinaten als Leistung und Schnelligkeit. Es geht darum, das Geschenk der eigenen Lebenszeit wahrzunehmen und anzunehmen. Die Zeit, die einem Menschen zwischen Geburt und Sterben gegeben ist, ist "etwas überaus Kostbares". So sagt es Pater Kentenich, und er fügt bei: "Man nennt deswegen gern die Zeit den Stoff, aus dem die Ewigkeit gewoben ist."


Das Geheimnis der Kinder und Alten ist ihre Nähe zur Ewigkeit: Jedes Kind ist ein Botschafter Gottes. Der Dichter Khalil Gibran sagt Eltern: "Deine Kinder sind nicht deine Kinder, sie kommen durch dich, aber nicht von dir, sie sind bei dir, aber sie gehören dir nicht." Achim von Armin nennt die Kindheit einen "Augenblick Gottes". In den Augen des Kindes leuchtet noch der Blick Gottes nach.

Alte Menschen stehen an der anderen Seite der Lebenszeit. Sie sind der Ewigkeit schon nah. Deshalb haben sie andere Maße. Vieles, was uns in der Alltagstagshektik unverzichtbar scheint, ist ihnen nicht mehr wichtig. "Der Mensch wird nicht mehr aktiv, sondern strahlt aus", beschreibt es Guardini. Er kommt "nicht in die Nähe des Endes, sondern des Ewigen".


Die Wertschätzung, die eine Gesellschaft ihren Kindern und Alten entgegenbringt, lässt ihr humanes Niveau erkennen. – Lernen wir von Kindern und Alten, die Kostbarkeit der Zeit zu entdecken:


Die Kostbarkeit der Zeit entdecken

Das gesammelt spielende Kind lehrt uns, wie wichtig es für unsere seelische Gesundheit ist, eine Sache zu Ende zu führen und uns nicht unterbrechen zu lassen oder gar uns selbst zu unterbrechen, weil wir eben noch schnell die Mails durchsehen, eben noch telefonieren, eben noch ins Fernsehen schauen wollen.

Die Hirnforschung zeigt übrigens, dass solches Verhalten auch intelligenter macht: Die interessierte, konzentrierte Zuwendung zu der einen Sache bewirkt im Gehirn des Kindes eine Vielzahl von Verknüpfungen. Das Kind lernt ständig. Eine Flut von Eindrücken und Daten dagegen legt im Gehirn die Lernfähigkeit lahm. Ein Hirnforscher brachte es auf die knappe Formel: Zu vieles zu schnell aufzunehmen, macht dumm. "Auf die Datenflut folgt unweigerlich die Denkebbe", kommentiert die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel.


Kinder, die sich ganz unmittelbar auf die Welt einlassen, lehren uns ein Zweites: Je unmittelbarer ein Erlebnis ist, um so intensiver. Ein Beispiel ist die Fortbewegung: Die Intensität des Erlebnisses steigt, wenn wir uns real fortbewegen. Wer zu Fuß oder per Fahrrad eine Landschaft erobert, hat nach einer Woche das Gefühl, schon viel länger unterwegs zu sein, weil die Erfahrung so dicht ist. Wer dieselbe Strecke per Auto zurücklegt, kommt an dieses Erleben nicht heran.


Damit hängt unmittelbar ein Weiteres zusammen, was wir von Kindern und alten Menschen gleichermaßen lernen können: die Langsamkeit. Sie öffnet uns die Augen für die kleinen Wunder, für viele positive Dinge, die wir sonst achtlos übersehen. Karlheinz Geißler, der selbst durch eine Kinderlähmung von jung an einen anderen Rhythmus lebte, sagt: "Ja, man sieht auch die kleinen Dinge. Die Schnellen rasen und machen vieles tot. Ein Fußgänger fährt niemanden tot. Die Liebe, die Gemeinschaft mit anderen Menschen erlebe ich nur, wenn ich langsam bin. Weil sich so etwas wie Vertrauen entwickeln muss. Krieg ist schnell, Frieden langsam."


Das wirklich Wichtige wahrnehmen

Kinder und alte Menschen haben uns vieles voraus. Während wir dem Ernst des Lebens hinterherhasten, leben sie uns mit vollem Ernst vor, was von all dem wirklich wichtig ist.


Selbstverständlich wird unser Tag auch weiterhin getaktet sein von der Fülle an Pflichten, und natürlich lässt sich das moderne Leben nicht ständig zu Fuß und mit Verlangsamung meistern. Aber hin und wieder sollten wir uns diesen Luxus gönnen.

Vor allem können wir von unseren Kindern und Alten eines lernen: Die Zeit ist nicht Produkt unserer Leistung. Sie ist Gabe eines Größeren. Gott gibt uns die Zeit unseres Lebens, und entscheidend ist, sie immer neu von ihm entgegenzunehmen, ehrgeizige Planungen loszulassen, uns auf seine Führungen einzulassen und uns in Engpässen ihm zu überlassen. Denn am Ende steht die Ewigkeit – bei jedem Menschen. Und der "Stoff, aus dem die Ewigkeit gewoben" sein wird, ist dieses uns geschenkte Leben. "Was ist doch die Zeit etwas überaus Kostbares, der Lösepreis für die Ewigkeit." (J. Kentenich)

 

Aus: BEGEGNUNG – Zeitschrift für Frauen aus Schönstatt – 4/2009

www.zeitschrift-begegnung.de


 

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