Bank zum Ausruhen © K. Glas

Ich eile, also bin ich - Hoffnung auf ein neues Zeitmanagment

29.09.2009


In Afrika erwachte eine Gazelle in dem Wissen, dass sie gleich schneller laufen musste als der schnellste Löwe, um nicht gefressen zu werden. Gleichzeitig räkelte sich der Löwe, und sofort war ihm klar, dass er schneller sein musste als die langsamste Gazelle, um nicht zu verhungern.

 

Immer schneller tickt die Zeit

Egal, ob Sie ein „Löwe" oder eine „Gazelle" - eine viel beschäftigte Mutter, Verkäuferin, Lehrerin, Krankenschwester oder Bürofachfrau - sind: Wenn es tagt (nein, zur Zeit sogar noch lange davor), müssen Sie loshetzen.

So vieles in unserer Umgebung steht unter diesem Zeitdruck: Fristen laufen ab, Maschinen und Geräte sollten vor dem Garantie-Ende ihre Macke bekommen, Joghurt verfällt von einer Sekunde auf die andere, ersichtlich aus dem aufgestempelten Verfallsdatum.

 

Früher existierten gar keine Uhren. Irgendwann entwickelten sich dann Schattenuhren, ihnen folgten Sonnenuhren. Diese Zeitmesser waren auf Sonne angewiesen und funktionierten daher nur zu bestimmten Tageszeiten. Gleichzeitig waren nur ungefähre Zeitangaben möglich - die Raum für viel Zeit boten. Als wir drei Jahre lang in Afrika, im Tschad wohnten, erlebten wir, dass Versammlungen immer dann begannen, wenn die Sonne „dort" stand. Für uns hieß das: 10.00 Uhr morgens. Die Ersten kamen dann um 11.00 Uhr, die letzten gegen 12.00 Uhr. Und alle hatten recht: Die Sonne stand ja immer noch dort, wo sie es uns gezeigt hatten.

 

Fortschritt mit Rückschritt?

Der Siegeszug der Uhr nahm seinen Lauf: Ab dem 17. Jahrhundert gab es Minutenzeiger, ihnen folgten Sekundenzeiger. Mittlerweile erfassen Digitaluhren den jeweiligen Moment noch um einiges präziser, und dank der Caesiumuhren weichen unsere Funkuhren in einer Million von Jahren voraussichtlich maximal nur noch höchstens eine Sekunde ab.

Ein Fortschritt, der uns gleichzeitig seelischen Rückschritt beschert? Stehen wir durch die immer exakteren Zeitangaben nicht unter einem Zeitdiktat? Menschliche Beziehungen und Hilfeleistungen werden mit der Stoppuhr gemessen (siehe Sozialstation), immer im Wettlauf mit Zeit und Geld. Atemlos hetzen wir durch das Leben, wie gefangen im Netz der Zeitnot. Bezeichnend, dass das berühmte Wort „Ich denke, also bin ich" schon lange abgelöst wurde von: „Ich eile, also bin ich.

 

Fliegt die Zeit oder fliegen wir?

Wenn wir im ICE sitzen, haben wir den Eindruck, die Landschaft fliegt nur so an uns vorbei. Dabei sind wir es, die durch die Landschaft brausen. Das gibt Hoffnung, denn heißt das nicht, es könnte uns gelingen, die Geschwindigkeit zu drosseln, wenn wir das wollen? Aber wollen wir das?

Ich bin neulich kräftig über mich selbst erschrocken, als ich im Altenheim am Bett einer Frau saß und mich plötzlich bei dem Gedanken ertappte: „Du sitzt hier doch eigentlich nur herum! Wie viel Wäsche hättest du zu Hause in der Zeit falten können!" Grässlich! Dabei spüre ich doch, wie viel es ihr bedeutet, dass jemand einfach bei ihr sitzt und ihre Hand hält.

 

Alles hat seine Zeit

„Alles hat seine Stunde", heißt es in der Bibel. „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten ... (Koh 3,1-8). Wenn das stimmt, habe ich auch so viel Zeit wie ich brauche, um all meine Dinge tun zu können und trotzdem noch Zeit für Lebensqualität zu haben. Es liegt an mir und meiner Lebenseinstellung, an den Maßstäben, die mein Denken und Handeln bestimmen, wie ich meine Zeit fülle, was ich tue und was ich lasse. Zeit ist eine Leihgabe Gottes an uns Menschen. Sie ist vergleichbar mit einem Gefäß, das wir mit Freude, Leben und Liebe füllen können, das aber auch unter unseren Händen zerbrechen kann. Wohl noch niemand hat am Sterbebett eines Menschen den Satz gehört: „Ich habe in meinem Leben zu wenig Zeit im Büro verbracht!" Oder: „Ich hätte unbedingt noch mal meine Küche von oben bis unten säubern wollen!" Eher: „Hätte ich doch mehr Zeit mit meinem Mann verbracht!" Oder: „Ich wäre so gern noch einmal nach X. gereist."

Seltsam, in Zeiten der Krisen und Not gelingt es uns viel besser, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und Zweitrangiges auch mal warten zu lassen.

 

Meinen Zeitfressern auf der Spur

Die Zeit läuft mir fort - oder bin ich es, die mit der Zeit falsch umgeht? Da ist zum Beispiel Frau Schnell-mal-eben. Sie ruft einfach immer mal wieder kurz an (oft dauert es aber sehr lange) und will sich nach mir erkundigen. Im Grunde will sie aber nur über ihre vielen Termine stöhnen und sich wichtig machen ... Wie reagiere ich?

Oder da ist Herr Neunmalklug. Er eilt in mein Büro und meint strahlend: „Ich habe hier eine kleine Anfrage. Da ich dringend weg muss, dachte ich, Sie könnten das schnell für mich erledigen." Ich lächle, fühle mich geehrt - und hänge den ganzen Vormittag an seiner Arbeit, während meine liegen bleibt. Oder Frau Sag-ja-immer-ja. Sie redet auf mich ein, bis ich - obwohl ich Nein denke - ein verzwungenes Ja sage. Ich will ja niemanden verletzen (dabei täte das mein Nein gar nicht), und es ist doch auch schön, gebraucht zu werden. (Allerdings. Wenn ich wegen Arbeitsüberlastung innerlich leer und kaputt bin, werde ich nicht mehr gebraucht werden). Und dann ist da noch Herr Plötzlich, der immer wieder völlig überraschend Einlass in mein Leben fordert und die ganze, mühsam ausgeklügelte Tagesplanung einfach über den Haufen wirft. Aber am meisten hat mich Frau Immerweiterso im Griff. Sie verhindert, dass ich meine Arbeit von Zeit zu Zeit unterbreche und einige Minuten für mich und meinen Gott einplane: kleine Auszeiten, in denen ich ein Kapitel eines Buches lese, einfach mal zum Himmel emporschaue oder eine Runde durch die Felder drehe. Ihre schlimmste Waffe ist der Satz: „Erst das eine ganz fertig machen, dann die Erholung." - Leider ist es meist so, dass ich zur Erholung dann gar nicht mehr komme.

 

Achtsam freie Zeiten planen

„Die Zeit ist wie der Wind: richtig genutzt, bringt sie uns an jedes Ziel" (Lothar Seiwert). Ich habe für mich festgestellt, dass ich in meinen Kalender genauso achtsam wie feste Termine auch freie Zeit eintragen muss. Wenn ich mich nicht im voraus bewusst dafür entscheide, bleibt vor lauter anderen Terminen keine freie Zeit mehr übrig. Ich kann die freie Zeit auch in meine GTO (Geistliche Tagesordnung) eintragen; da steht dann zum Beispiel: Zehn Minuten stille Zeit. Oder: Nach Erledigung einer Aufgabe, Atempause einschalten.

 

Zehn Minuten, die sich auszahlen

Jeden Tag - am einfachsten ist es, wenn es ungefähr zur gleichen Zeit sein kann -, lehne ich mich auf dem Sofa zurück. Geradeaus habe ich den Blick der Gottesmutter vor mir; schon das lässt mich ruhiger werden. Sie schaut beruhigend, nicht hektisch, nicht fordernd. Dann lasse ich all die Gedanken in mir hochkommen, die eben kommen wollen: oft ein gehöriges Knäuel. Ich sage ihr dann: „Das und das drückt mich ... Das und das macht mich froh ..." Manchmal lese ich einen Text aus der Bibel oder aus einem geistlichen Buch, an anderen Tagen schaue ich sie einfach nur an oder sammle „Schätze": denke darüber nach, was sie mir in letzter Zeit alles ermöglicht hat, oder fälle eine Entscheidung.

 

Ehrlich, es fällt mir immer noch schwer, mich nachmittags aus dem „Familiengetriebe" zurückzuziehen (ich bleibe im Wohnzimmer, die Kinder warten dann geduldig, bis Mama wieder den „weltfernen Blick" - wie sie es nennen - abgelegt hat). Aber jedes Mal, wenn ich es geschafft habe, spüre ich, wie viel Kraft mir das gibt: neue Luft zum Atmen, die Beruhigung der „aufgewühlte See". Oft ändert sich durch diese stille Zeit mein Blickpunkt, ähnlich wie bei David und Goliath: „Als die Israeliten Goliath, die Kampfmaschine sahen, sagten sie: ‚O weh, der ist so groß, den können wir niemals überwältigen!' Als David Goliath erblickte, sagte er: ‚Der ist so groß, den kann ich gar nicht verfehlen.'"

 

Eine - sich selbst als hundertprozentig bezeichnende - Freundin sagt: „Ich komme um, wenn ich jeden Tag eine zeitlang nichts tue. Aber ich bin so im Perfektionsstress, dass ich mich dringend nach Ruhe und Ausgeglichenheit sehne. Jetzt habe ich eine gute Möglichkeit gefunden: Ich bügle nicht mehr vor dem Fernseher, sondern mit einer schönen Musik. Dabei kann ich alle Gedanken, die mich bewegen, kommen lassen, kann sie ordnen und in mein Leben integrieren. Das hilft mir, herauszuspüren, welchen Erwartungen ich nachkommen möchte und welchen nicht, so dass ich letztere mit einem charmanten „Nein" beantworte. „Vielleicht ein ander' Mal. Zur Zeit sehe ich mich dazu nicht in der Lage."

 

Der liebende Blick über die Schulter

Frau N. erzählte einmal, wie schwierig es für sie gewesen sei, ständig zu sehen wie weit sie im Haushalt und bei der Kindererziehung hinter ihrem Anspruch zurückbleibt und wie sie sich deshalb ganz unglücklich die Frage stellte: Wie soll Gott sich in unserer Familie nur wohl fühlen?! Ihr Beichtvater habe ihr dann geraten: Lassen Sie Ihn zuschauen. Er steht hinter Ihnen und schaut Ihnen mit Seinem liebenden Blick über die Schulter - nicht um zu kontrollieren, sondern um Ihnen den Rücken zu stärken und um alles, was kommt und wie es kommt, mitzutragen.

Jede von uns kann diese Kraftquelle in Anspruch nehmen: Bitten Sie Jesus, Maria, einen lieben Verstorbenen oder eine/n Heilige/n, der/die für Sie wichtig ist, und lassen Sie sich von ihm/ihr über die Schulter blicken. Dann tickt die Zeit langsamer und die Gelassenheit nimmt zu.

 

Frauen brauchen Zeit für sich allein

Schützen wir uns, indem wir unsere Grenzen, die Gott uns setzte, bewahren und unseren Lieben damit zeigen: Ich bin jemand, der Achtung verdient und sich schützen kann. Wenn wir unsere Tür nicht rechtzeitig schließen, trampelt jeder bei uns herein. Grenzen sind wichtige Erfahrungen, nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Wo immer Grenzziehungen verwischt oder nicht gesetzt werden, entstehen Probleme in Familien und Beziehungen.

 

Ich bin überzeugt, gerade wir Frauen brauchen unbedingt regelmäßig Zeit für uns allein. Zeit, um dem vielen, das auf uns einstürmt, einen Platz zuzuweisen in unserem Herzen, um das Beziehungsgeflecht, das uns umgibt, aufrecht zu halten und jedem seinen „Raum" einzurichten.

Und wenn das noch im Gespräch mit unserem liebenden Vatergott geschieht, der sich einen ganz besonderen Platz für jede von uns ausgedacht hat, dann müssten wir wieder mehr Zeit finden in unserer Welt.

 

Unser Heiliger Vater, Papst Benedikt XVI., sagte einmal: „Meine Seele macht den Herrn groß. Groß machen, das heißt: ihm Raum geben in der Welt, im eigenen Leben, ihn einlassen in unser Tun. Wo Gott groß wird, wird der Mensch nicht klein. Da wird auch der Mensch groß und die Welt hell." - Hoffnung für (m)ein neues Zeitmanagement!

 

Claudia Brehm
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 4/2007
www.zeitschrift-begegnung.de

 

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