Natur genießen im Hunsrück © H. Brehm

Ich suchte Ruhe - und fand Stress. Ich nahm Gott mit zum Stress - und fand Ruhe.

16.02.2010

 

Im Sommer verbrachten mein Mann und ich fast eine ganze Woche allein in einem kleinen, einfachen Holzhaus im Hunsrück. Es war traumhaft: schlafen, essen, Fahrrad fahren, lesen, reden, wandern, beten, einfach vor sich hindenken und sich Gott nahe fühlen, als potentielle Langschläfer zum Sonnenaufgang ausrücken und nachher wieder ins Bett steigen und bis 12.00 Uhr schlafen ... Am Ende hatte ich das Gefühl, noch nie so stressfrei gelebt zu haben – und das starke Bedürfnis, diese wunderbare Ruhe und Verbindung mit Gott auf alle Fälle in meinen Alltag hinüberzuretten. Eine lobenswerte Idee – die allerdings schon in der ersten Woche zu Hause völlig die "Hecken runter" ging ...

 

 

"Hehre" Vorsätze – und ihre Wirkung ...

 

Das Problem bestand darin, dass mein Tag jetzt wieder vorgegeben war, gefüllt mit tausend Dingen, die ich tun musste. Der normale Alltag eben, wo ich nicht planlos alles auf mich zukommen lassen konnte, um dann auszuwählen, was mir im Moment am besten gefiel oder auszusortieren, wo mir gerade nicht danach war. Rechnungen überweisen, Garten jäten, Schulmaterialien besorgen, Sofabezug flicken, Lego spielen, vorlesen, Lebensmittel einkaufen (ich war doch erst, warum ist denn schon wieder alles leer?!), Artikel schreiben, mit ausländischen Freunden Verträge ausfüllen und sie auf Behördengängen begleiten (sehr zeitaufwändig und nervig) ... Dabei zerplatzte nicht nur meine Sehnsucht nach Stille, Beschaulichkeit und langsamem Lebensrhythmus, ärgerlicherweise blieb nicht mal mehr die Zeit für Gott übrig, die ich sonst immer noch zu reservieren hingekriegt hatte (ggrrr!). Die Tage wurden zu einem chaotischen Terminkarussell, zu einem einzigen Aktivitäten-Wirrwarr, der mir die Luft abdrückte und nichts als innere Leere und Unzufriedenheit einbrachte. Als dann irgendwann mein 9-jähriger Sohn sagte: "Mama, gell du hast immer 'ne Mordswut zur Zeit!", wurde ich hellhörig und begriff: Wenn man hehren Vorsätzen nachhängt und sie nicht der Realität anpasst, wird man zur Zumutung für seine Familie und Umwelt.

Es kann nicht darum gehen, für Gott einen freien Raum zu schaffen, den es im Moment gar nicht gibt. Es geht darum, ihm – mitten im Terminkarussell – einen Platz anzubieten, mich nach seiner Hand auszustrecken und auf seine Ideen einzulassen. Aber wie?

 

 

Bunt ist schöner als schwarz-weiß

 

Zuerst muss ich wohl eine falsche Denkhaltung stoppen: die Schwarz-weiß-Malerei. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß, es gibt auch das noch viel schönere Bunt. Im Klartext: Ich setze mich selbst unter Druck, wenn ich mir vornehme, den ganzen Garten auf einmal zu jäten – ein Stückchen davon tut's auch für heute, und dann freue ich mich über das Stückchen, das ich geschafft habe und stöhne nicht über das Stück, das noch zu machen ist. Oder: Ich schaffe es nicht, meine zehn Minuten Stille zu halten, in denen ich bete oder lese oder vor mich hindenke – aber ich bin schrecklich müde und mache ein Mittagsschläfchen. Ich meine, Gott freut sich auch darüber sehr und macht mir klar: Er will diese zehn Minuten ja nicht für sich, als eine Zeit, in der ich etwas leisten muss, sondern er möchte, dass es eine gute Zeit für mich ist, eine Zeit, in der ich zur Ruhe komme, Abstand gewinne und aufatmen kann. (Ha, da kann ich ihm gleich für den tiefen Kurzschlaf in einem Stoßgebet danken.)

 

 

Pausen statt Termine

 

Wie wäre es, wenn ich meinen Tag nicht von den anstehenden Terminen, sondern von den Pausen her denke? Dem Tagesbeginn voraus geht erst mal die "große Pause": der Schlaf. Bevor ich mich aus dem Bett schwinge, gelingt es mir manchmal, mich zu freuen: "Danke, Vater, dass ich in deiner Hand beschützt schlafen durfte!", und ich kann fragen: "Wie fühle ich mich im Blick auf den heutigen Tag? Was macht mir Angst? Auf was freue ich mich? Wo ist die nächste Pause? Das alles schenke ich dir, Vater. Danke, dass du mitgehst."

Dann kommt die kleine Pause: wenn alle aus dem Haus sind und ich noch 15 Minuten habe, ehe ich los muss. Wie gestalte ich sie? Ich kann diese Leerzeit mit Geschirr-Abwaschen, Betten-Machen oder Waschmaschine-Einräumen füllen, ich kann aber auch einfach nur aus dem Fenster gucken, mich an draußen freuen und in einem Satz Ruhe finden: "Du sorgst für mich!" – "Du führst mich!" – "Schön, dass du da bist!" und dabei tief einatmen. Dann sickert diese Botschaft so richtig gut und hilfreich ein ...

Und dann gibt es die Zwangspausen: an der roten Ampel, beim Einkaufen an der Kasse, beim Arzt im Wartezimmer, beim Abfragen der Vokabeln, wenn die Abstände beim Antworten immer länger werden (zugegeben, diese Pause ist oft nicht so recht entspannend!) ... Ich versuche, mir immer wieder klar zu machen: Dies sind Pausen – mir geschenkte "Durchatmer", keine Ärgerpunkte, wo mir der Schweiß ausbrechen und ich Angst haben muss, nicht mehr rechtzeitig zum nächsten Termin zu kommen.

Dann kommt wieder eine große Pause: Mittagessen, Tee oder Kaffee kochen, Blumen gießen und mit ihnen reden, Waschmaschine einräumen und dabei singen und an den vergangenen Urlaub denken ...

Und schließlich beginnt die große Atempause: wenn abends Ruhe einkehrt und ich manchmal auf dem Sofa sitze und beim Lesen einnicke – und es dann trotzdem noch gut tut, an das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit zu denken, weil es meinen Tag abrundet und das viele Unbearbeitete, das wahllos herumliegt, einsammelt und an seinen Platz stellt. Dann kann ich morgen wieder neu anfangen zu leben. Ich breche den Tag nicht einfach ab, sondern beschließe ihn bewusst und werte ihn aus.

 

 

Ich genieße

 

Ist es nicht interessant, dass Gott die Schöpfung nicht am sechsten Tag vollendete, sondern einen zusätzlichen Tag schuf, den Sonntag, an dem er nichts tat, als "nur" sein Werk anzuschauen, es für gut zu befinden und in Dankbarkeit und Freude zu genießen? Wäre Gott wie wir heutige Menschen, hätte die Erschaffung der Welt sicher nur sechs Tage gedauert. Arbeiten und dann sofort etwas Neues anfangen, ohne das Geschaffene zu genießen. Wie oft passiert mir das auch: Die Kinder oder ich oder mein Mann machen etwas, ich schaue schnell hin und sage: "schön". Aber wir könnten das Gelungene auch feiern, könnten aus dem Alltag heraustreten und bewusst genießen. Oder wir könnten am Ende der Woche – zum Beispiel am Samstagabend beim Pizzaessen – alles aufzählen, was uns diese Woche gelungen ist und uns darüber freuen. So etwas schafft Zeiträume, die wohltun und die jedem, der dazu gehört, das Gefühl geben, wertvoll zu sein und sein Bemühen gewertet zu sehen.

Das Geheimnis der Schönheit ist der freie Raum. Wir können Beutel voller Muscheln sammeln, aber die Schönheit und Wirkung kommt erst richtig zum Ausdruck, wenn wir die Muscheln einzeln anschauen. Wie können wir unsere Kinder, unsere Arbeit, unsere ... einzeln anschauen, um das Besondere darin zu sehen und Tiefe zu finden?

 

 

Vom Stressmacher "leere Netze" zum Geheimnis der leeren Netze

 

Ein Stressmacher pur ist die Angst vor Versagen, vor Nicht-Gelingen, davor, dass eine Sache für die man oder frau verantwortlich ist oder die ihm oder ihr am Herzen liegt, danebengeht oder nicht so erfolgreich ausgeht wie erhofft. In der Bibel heißt es dazu: "In dieser Nacht fingen sie nichts." (Joh 21, 1-13). Die Jünger Jesu machen die bittere Erfahrung, mit leeren Netzen dazustehen, sich umsonst gemüht zu haben.

 

Das "Nichts" ist die größte aller Unterbrechungen und Pausen. Weltlich gesehen löst es in uns Bitterkeit, Frust, Angst aus – geistlich gesehen ist es jedoch die Zeitspanne, in der sich unheimlich viel tut: das Abwarten-Müssen, das sich Hineinfinden-Müssen, das Offensein für Neues, das Gott schafft, die Überraschung, dass alles Leere bis zum Zerreißen gefüllt werden kann – aber eben zu einem anderen Zeitpunkt. Also: Leere ohne Angst, aber mit viel Vertrauen in Gott aushalten. Denn Gott kann nur leere Hände füllen, keine vollen.

Ist es denn schlimm, dass der Kuchen "schräg" wurde oder nicht aufging? Schmecken tut er doch trotzdem. Vielleicht schafft es mein Kind jetzt nicht aufs Gymnasium – aber wer weiß denn, wie es nach der zehnten Klasse aussieht und was ich dadurch als Mutter für ein Übungsfeld an Geduld und Demut geschenkt bekomme? Vielleicht ist das Gruppentreffen, auf das ich mich so lang vorbereitet hatte, unbefriedigend verlaufen – doch was weiß ich denn, welches Wort gerade eine der Frauen besonders getroffen hat? Vielleicht fühle ich mich zur Zeit kraftlos und leer – aber die Kraft wird wieder kommen; sich leer fühlen kann ja auch der Zustand sein, in dem ich gerade neu "auflade".

 

 

Der Umgang mit den "unheiligen" Momenten

 

Alles, was mir gegen den Strich läuft, was Wut, Panik oder Unmut in mir hervorruft, löst Stress aus, stört meine Ruhe. Es ärgert mich und hinterlässt das Gefühl, versagt zu haben. Ich kann die "unheiligen" Momente aber auch ins Gebet nehmen. Sowohl die frühen Wüstenväter wie auch die weltberühmten Exerzitien des Ignatius von Loyola machen gute Erfahrungen mit dem kleinen Stoßgebet: "Herr, erbarme dich!" So ein Kurz-Satz kann die Enge, in die wir uns oft hineinmanövrieren, wieder weit machen. Er kann helfen, den Frust direkt da abzuladen, wo er hingehört: bei Gott. Er verhindert, dass wir uns selbst fertigmachen und kann sehr hilfreich sein – wenn die unsympathische Nachbarin meinen Weg kreuzt, wenn der Autofahrer vor mir so schusselig fährt, wenn meine Tochter mal wieder ihren Schreikrampf hat ...

 

Tja, mein Terminkarussell dreht sich immer noch – und von meinen hehren Vorsätzen konnte ich nur wenig in den Alltag hinüberretten. Aber eins hab ich gemerkt: Gott steigt gern mit ein ins Karussell – wenn ich ihn denn einlade. Und dann dreht sich's seltsamerweise schon nicht mehr ganz so schnell ...

Ah, gerade sind alle überraschend aus dem Haus. Keiner da, jippi! Jetzt schnell auf's Sofa! Soll ich jetzt schlafen? Oder beten? Gedanken kommen und gehen lassen, sortieren? O je, da klingelt das Telefon! Aber: ist doch meine Entscheidung, ob ich rangehe oder nicht – oder? Ich entscheide mich fürs Letztere!

 

Fazit: Ich suchte Ruhe – und fand Stress. Ich nahm Gott mit zum Stress – und fand Ruhe!


Aus: BEGEGNUNG, Zeitschrift für Frauen aus Schönstatt, 4/2009 

http://www.zeitschrift-begegnung.de/


 

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