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Sich berühren lassen

02.06.2020


Dieser Tage erhielt ich – vor dem Hintergrund der Corona-Lage – ein inszeniertes Foto zugesandt. Darauf sieht man einen Priester, der unter Einhaltung der Abstandregel mit einer Weihwasser-Spritzpistole auf ein Kleinkind im Taufkleid zielt, das ihm vom Vater entgegengehalten wird. Meine emotionale Erst-Reaktion: herzhaftes Lachen. Bei der verzögert einsetzenden kognitiven Reaktion kam mir folgender Gedanke: Wie hält es die Kirche bei den Sakramenten mit Berührungen? Ein Sakrament beinhaltet stets eine persönliche Begegnung. Denn der unsichtbare, aber wirksame Gott soll durch eine sichtbare und spürbare Handlung erlebbar gemacht werden.

Sechs der sieben Sakramente beinhalten eine rituelle Berührung. Lediglich bei der Beichte findet kein Körperkontakt statt. Bei der Taufe zeichnet der Priester oder der Diakon dem Kind mit Chrisam-Öl ein Kreuz auf die Stirn. In der Eucharistie legt der Priester die Hostie in die Hand oder auf die Zunge des Gläubigen. Bei der Firmung legt der Bischof seine rechte Hand auf den Kopf des Firmlings und zeichnet ihn mit dem Salböl. Während der kirchlichen Trauung legt der
Zelebrant die Stola um die ineinandergelegten Hände der Brautleute.Für das endgültige Zustandekommen der ehelichen Verbindung ist zudem der körperliche Vollzugdurch die sexuelle Vereinigung erforderlich. Die Priesterweihe erfolgt durch die Handauflegung des Bischofs; anschließend wird der Neupriester von den anwesenden Geistlichen auf die gleiche Weise gesegnet. Schließlich wird bei der Krankensalbung Hand angelegt: der Priester vollzieht die heilige Handlung, indem er mit Daumen und Zeigefinger Chrisam aufnimmt und dem Kranken oder Sterbenden ein Kreuz auf Stirn und Hände zeichnet.

Der Schöpfer hat den Menschen wunderbar geschaffen. Im Mutterleib entwickelt sich beim Embryo der Tastsinn als erstes – noch vor dem Seh- und Hörsinn. Der gerade 15 Wochen junge Fötus berührt sein Gesicht und führt Saugbewegungen am Daumen aus. Heute weiß man, dass der Saugreflex in der Gebärmutter trainiert wird, damit die spätere Nahrungsaufnahme an der Mutterbrust gut gelingen kann. Selbstberührungen kommen häufiger vor, wenn die Mutter einer Stress-Situation ausgesetzt ist. Forscher vermuten, dass der Fötus auf diese Weise seinen inneren Zustand teilweise selber regulieren kann. Warum der erwachsene Mensch sich am meisten selbst berührt – 400 bis 800 Mal passiert das täglich (!) allein am Kopf - hat vor allem damit zu tun, dass sich dadurch ein „körperliches Selbst“ entwickelt. Man wird sich seiner Existenz leibhaftig bewusst wird: Ich berühre, also bin ich!

 

Studien belegen, dass schon eine kurze Umarmung unter Partnern zu einer deutlichen Senkung des Blutdrucks und einer Beruhigung des Pulses führt. Selbst eine beiläufige Berührung an der Schulter oder der Hand bei einem Fremden, etwa in einem Restaurant, führt bei diesem zu einem guten Gefühl, das noch Stunden oder gar Tage anhalten kann. Nach intensiven Berührungen werden entzündungshemmende Vorgänge aktiviert. Es kommt zu einer Stabilisierung des Immunsystems. Vor dem Hintergrund der Corona-Lage ist ein Aspekt bemerkenswert: alte Menschen verlieren zwar ihre Sehkraft, nicht jedoch ihr Vermögen, Berührungen wahrzunehmen. Rund3,5 Millionen Pflegebedürftige gibt es derzeit in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2018: Pflegestatistik); davon werden 30 Prozent in Pflege-Einrichtungen betreut.

 

In Bezug auf die Bedeutung wertschätzender Körperberührungen im täglichen Umgang sagt der Psychologe und Tastsinn-Forscher Martin Grunwald von der Universität Leipzig: „Wir brauchen adäquaten Körperkontakt für ein gesundes Leben und für einen guten Zusammenhalt in der sozialen Gemeinschaft. Ein Organismus, der nicht fühlen kann, ist zum Sterben verurteilt.“ (Interview mit Domradio.de vom 09.04.2020)

Buch-Tipp: Martin Grunwald (2017).
Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München: Droemer Knaur.


 

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