Rosa Rosen © K. Glas

Zeitmaß der Liebe

23.09.2009


Wir leben in einem eigenartigen Widerspruch: Obwohl ständig noch mehr zeitsparende Techniken in allen Lebensbereichen entwickelt werden - Mikrowelle, ICE, Internet -, leiden die meisten Menschen unter wachsendem Zeitmangel. "Ich habe keine Zeit!", das ist ein viel verwendetes Wort. Dabei „hat" kein ernsthaft schaffender Mensch Zeit. Man muss sie sich nehmen. Für Dinge, die wir lieben, nehmen wir uns Zeit. Mehr noch: Bei geliebten Menschen oder Tätigkeiten vergessen wir die Zeit regelrecht.

 

„Die Zeit ruht in der Ewigkeit"

So heißt es in einem Lied. Das ist die Erfahrung solcher Augenblicke. Wo wir die Zeit vergessen, ist sie oft besonders intensiv - nicht einfach ge-füllt oder über-füllt, sondern er-füllt. Dann kann in einer einzigen Begegnung, einem Wort, einem Blick soviel Nährkraft liegen, dass wir meinen, alles wäre viel länger gewesen. Je intensiver ein Augenblick ist, um so reicher und ausgedehnter erscheint er uns im Rückblick. Wo der Mensch liebt, wird er wieder zum Kind. Kinder messen die Zeit nach der Intensität, nicht nach Minuten.

 

Daran wird deutlich, dass Zeitmanagement allein das eigentliche Zeitproblem nicht lösen kann. Natürlich ist es wertvoll, Methoden zu kennen, die uns immer wieder heilsam entschleunigen oder eben ans Arbeiten bringen. Doch diese Techniken sind nur Hilfsmittel zum Eigentlichen. Das Eigentliche ist das Lieben:

 

Wer liebt, hat Zeit

Bei einer Frauentagung im August 2007 zum Thema „Zeit" brachte die Publizistin Antje Schrupp eine interessante Beobachtung: „Wir brauchen keine neuen Trends und Heilsversprechen, sondern ... so etwas wie eine mütterliche Autorität, die mahnt, nicht so zu trödeln oder nicht so schnell zu rennen, erst mal abzuwarten oder auch nicht alle anderen warten zu lassen. Was ist jetzt die Situation, was ist angemessen, damit diese Zeit, um die es geht, ‚gut' ist?"

 

Eine Mutter, die ihr Kind liebt, hilft ihm gerade durch ihre Liebe, die richtigen Zeitmaße zu erlernen. Alles hat seine Zeit: Am Morgen, wenn die Schule ruft, ist Trödeln verkehrt, denn der Bus wartet nicht. Es gibt Termine, die müssen eingehalten werden, und Arbeiten, die sich nicht durch Liegenlassen erledigen. Doch es geht nicht einfach um reibungsloses „Funktionieren" im Zeitapparat der Gesellschaft. Es geht vielmehr um das Gespür, was hier und jetzt richtig und gut ist. Es geht darum, das Leben richtig zu gewichten. In der Art, wie eine Mutter mit ihrem Kind umgeht, kann sie ihm das vermitteln. „Meine Mutter hat dann für mich Zeit, wenn ich es brauche, nicht wenn sie Zeit hat", sagt eine 11jährige.

 

Brauchen nicht auch wir Erwachsenen heute diese Mutter, in deren Nähe unser irritiertes Zeitgefühl wieder ins Lot kommt? Es ist schön, das Liebesbündnis auch einmal so zu betrachten: als eine

 

Hilfe, unsere Zeit von der Liebe her zu gewichten

Wo Maria ist, kommt eine andere Wirklichkeit ins Spiel. Eine Frau beschreibt die Tage, an denen die Gottesmutter im Pilgerheiligtum zu ihr kommt: „Es ist, als ob Maria sagen würde: Nimm dir ein wenig Zeit, schaff nicht nur den ganzen Tag, es sind auch andere Sachen wichtig."

 

Wer das Liebesbündnis schließt, macht die Liebe zum Zeitmaß seines Lebens. Denn Pater Kentenich erklärt den Gehalt dieses Bündnisses so: „Der Mensch ist eine Lieblingsbeschäftigung Gottes und soll Gott zu seiner Lieblingsbeschäftigung machen."

 

Die Erfahrung, persönlich von Gott geliebt zu sein, verändert das Lebensgefühl. „Ich bin so dankbar, zum Liebesbündnis gefunden zu haben", sagt eine Frau. "Dass ich für Gott so wichtig bin, dass ich einen Wert habe, das ist für mich die große Neuheit, die meinen Glauben und mein Leben verändert hat."

 

Ich bin die Lieblingsbeschäftigung Gottes

Und Gott mit seiner Liebe zu mir soll mehr und mehr meine Lieblingsbeschäftigung werden. Pater Kentenich erklärt, wie das konkret wird: „Es müsste unsere Lieblingsbeschäftigung sein, uns vor Augen zu führen: Er liebt mich ... Versuchen wir recht häufig, den Erbarmungen Gottes in unserem Leben nachzuspüren ... Wie hat er mir geholfen, mich persönlich geliebt ... Scheinbar kleine Ereignisse sind der Anfang für ganz große Bewegungen geworden. Kann das bei uns nicht auch der Fall sein?"

 

Wo wir uns einer Lieblingsbeschäftigung hingeben, verändert sich unser Zeitgefühl. Alles wird intensiver. Pater Kentenich entwickelt einen Lebensstil aus dem Liebesbündnis, der den ganzen Tag aus dem Gedanken zu prägen sucht: Ich bin die Lieblingsbeschäftigung Gottes. - Schon morgens sollen wir uns unter den Eindruck stellen:

 

Ich darf erwachen, um neu die Liebe zu entfachen" (J. Kentenich)

Jeder Tag liegt dann wie eine weite, offene Landschaft vor mir: Auch wenn an manchen Tagen die Zeit nur so zerrinnt und die Termine und Ereignisse sich überschlagen - die eigentliche Zeitrechnung ist das Lieben, so gut es geht. Die Qualität meines Tages liegt nicht darin, wie es äußerlich läuft, sondern wie ich den Tag innerlich durchlebe: die Liebe gibt den Ausschlag.

 

Wenn wir uns tagsüber nicht durchsehen, uns minderwertig, über- oder unterfordert fühlen: Es hilft, wenn wir kurz „verstohlen Atem holen" in der Ewigkeit, wie es in einem Lied heißt. Ich erinnere mich an das unverbrüchliche Ja der Gottesmutter zu mir. „Es ist ein persönliches Ja zu meiner Person, so wie ich bin  ... Sie kennt mich sehr gut, mich als Person; ich bin keine Nummer für sie ... Sie nimmt mich an, so wie ich bin; sie bejaht mich auf ganz persönliche Weise. Überlegen Sie einmal, wie viele bitten und betteln darum, geliebt zu werden, eine Heimat in einem geliebten Menschen zu haben. ... Wir haben eine ganz persönliche Heimat im Herzen der lieben Gottesmutter." (J. Kentenich)

 

Je mehr wir uns als persönliche Lieblingsbeschäftigung Gottes erleben, um so mehr wird auch Gott unsere Lieblingsbeschäftigung. Das gibt unserem Alltag, auch den kleinsten Arbeiten, ein großes „Wofür". - Jemand schrieb Pater Kentenich nach dem Bündnisschluss:

 

"Endlich hat mein Leben ein klares, eindeutiges Ziel erhalten"

Und Pater Kentenich erwidert darauf: Wir haben alltäglich viele Pläne und Sorgen. Aber in Wirklichkeit suchen wir etwas ganz anderes: „Wir möchten ein Ziel vor Augen haben, das beides gleichzeitig in sich schließt: das Ewige und das Zeitliche." (J. Kentenich).

 

Das Liebesbündnis zeigt uns ein Ziel, das hineinreicht in die Ewigkeit: Ich lebe, um zu lieben. An meiner Liebe entscheidet sich auch einmal mein ewiges Glück. Pater Kentenich sagt: „Man nennt deswegen auch gern die Zeit den Stoff, aus dem die Ewigkeit gewoben ist. Wie werde ich mich darum bemühen, als tief innerlicher Mensch jede Sekunde auszunutzen!"

 

Also doch die Zeit ausnutzen, auskaufen bis zur letzten Sekunde? - Ja, aber nicht im Sinn von seelenloser Aktivität, sondern als ständigen Ruf zu lieben und uns lieben zu lassen.

Dann können wir auf manche Umtriebigkeit verzichten, die andere brauchen, um ihr Selbstwertgefühl hochzuhalten. Ich weiß, wem ich wichtig bin! Das gibt dem Alltag Freiräume zum Lieben: „Wenn das Telefon nicht klingelt - ist es für mich!" (Elias Canetti)

 

Sr. M. Nurit Stosiek
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 4/2007
www.zeitschrift-begegnung.de

 


 

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