Kunstwerk, Berlin © K. Glas

Unsere unterschiedliche Sexualität verstehen und gestalten

04.09.2009


In diesem Artikel soll es darum gehen, den Bereich, der uns am tiefsten aneinander bindet und in dem wir am verletzlichsten sind - unsere gemeinsam zu gestaltende Sexualität - auf unsere Unterschiedlichkeit hin anzuschauen, um auch hier mehr Verständnis füreinander zu entwickeln und einander zu bereichern.

 

Blick auf Sie

Es ist eine physiologische Tatsache: Experten zufolge verfügt die durchschnittliche Frau über weniger Testosteron und andere Sexualhormone als der durchschnittliche Mann. Das heißt nicht, dass sie keine Sexualität will oder sie nicht genießt, sondern dass sie sich in der Regel nicht so häufig und nicht so aktiv darum bemüht wie er. Ein niedrigeres Niveau sexuell bestimmter Hormone heißt auch, dass die Neigung, abgelenkt zu werden, bei ihr weitaus höher ist. Ablenkende Faktoren können sein: Geräusche aus dem Kinderzimmer, Kopfschmerzen, Erschöpfung, Stress, unerledigte Probleme. Die Frau will ihnen nicht den Vorrang geben, aber sie nimmt Störungen intensiver wahr. Eine Frau sagte: "Für Männer ist Sexualität offenbar ein Weg aus der Erschöpfung. Wir Frauen müssen erst unsere Erschöpfung überwinden, um innerlich bereit zu sein."

Bei ihr beginnt es im Herzen
Für die Frau ist entscheidend, wie der Mann heute mit ihr umgegangen ist. Nicht weil sie nachtragend ist, sondern weil bei ihr das, was sich in ihrem Herzen regt und wie sie die Sexualität erlebt, untrennbar zusammen gehört. Eines ist sicher: Wenn ein Mann versucht, durch Sexualität Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen oder auf diese Weise fehlende Nähe wiederherzustellen, funktioniert das für die Frau nicht. Sexualität ist da für sie keine Lösung; sie braucht vielmehr das Gespräch und liebevolle Zeichen des Neubeginns von Seiten ihres Mannes.

Was Frauen als hilfreich erleben, damit sie sich für die körperliche Begegnung mit ihrem Ehepartner öffnen und ihn beschenken können: Emotionale Aufmerksamkeit, liebevolle kleine Gesten, über den Tag verteilt: ein Kompliment, ein Anruf, kleine Nachrichten, Augenkontakt. Oder - konkrete Äußerungen von Frauen: "Wenn er mir regelmäßig zuhört und mit mir redet." "Wenn er in Gesprächen mit den Kindern oder Schwiegereltern zu mir steht." "Wenn er mir bei Unstimmigkeiten versichert, dass ich trotzdem geliebt bin." "Wenn er vom Tisch aufsteht und das fehlende Salz selbst holt." "Wenn er im Haushalt wenigstens eine Kleinigkeit übernimmt." "Wenn er mich tagsüber einfach mal in den Arm nimmt."

Was ist für Sie persönlich hilfreich? Weiß Ihr Mann das? Haben Sie es ihm schon einmal mitgeteilt?

 

Blick auf Ihn

"Die beste Methapher um die Psyche eines Mannes zu beschreiben", sagt Paula Rhinehart, eine christliche Autorin und Paartherapeutin, "ist die eines nahtlosen Gewebes. Männer sehen sich als Einheit. Wenn ihr Sexualleben in Ordnung ist, dann wird sich dieses Gefühl auf alle anderen wichtigen Lebensbereiche auswirken ..." Männer betrachten ihr Sexualleben nicht nur als kleinen Teil der Welt wie Frauen das oft tun. Frauen schließen nicht - wenn sie Schwierigkeiten in der Sexualität haben -, dass sie es auch auf anderen Gebieten nicht weit bringen werden. Aber genau diesen Rückschluss ziehen Männer.

Eine Frage der Identität
George Gilder schreibt in seinem Buch "Die Männer und die Ehe": "Frauen fragen sich oft, warum Sexualität für den Mann etwas so Wichtiges ist" und beschreibt Frauen als das sexuell überlegene Geschlecht. "Sie haben viele Möglichkeiten, ihre Weiblichkeit zu erfahren: Sexualität, Schwangerschaft, Geburt, Stillen ... Im Gegensatz dazu gibt es nur eine Sache, die einem Mann zeigt, dass er wirklich männlich ist: den Geschlechtsverkehr. Ein Mann ist in seiner Sexualität weniger sicher als die Frau, weil seine Sexualität auf Aktion gründet, seine sexuelle Erfüllung hängt von einem sensiblen Vorgang ab, der schwer zu kontrollieren ist. Für Männer ist das Verlangen nach Sexualität nicht nur eine Frage der Lust. Die Sexualität ist für sie ein lebensnotwendiger Test ihrer Identität."
In einer Welt, die ständig fordert: Beweise dich! Zeig uns, dass du etwas zu bieten hast! misst sich der Mann den ganzen Tag mit anderen Männern. Seine große Frage dabei ist: Bin ich gut genug?

 

Die verborgene Seite

Sexualität ist nicht die einzige Art der Bestätigung für den Mann, aber die schnellste und direkteste. Sexualität bedeutet einem Mann deshalb so viel, weil er darin eine Botschaft über sich selbst hört. Deshalb wird es den Mann, der sexuelle Intimität sucht und von seiner Frau abgewiesen wird, tiefer treffen als angemessen erscheint. Gegen alle Logik wird er einfach mit dem Gefühl zu kämpfen haben, dass er sich als Person abgelehnt fühlt. Tief in seinem Innern wird der Mann oft von einem Gefühl der Unzulänglichkeit und Isolation geplagt. Die sexuelle Vereinigung gibt ihm die Sicherheit, dass die Frau ihn bejaht und liebenswert findet. Sie lindert seine Einsamkeit und gibt ihm die nötige Spannkraft und Zuversicht, der Welt wieder entgegen treten zu können. Sie vermittelt ihm ein tiefes Gefühl des Trostes und der Geborgenheit.
Ein Mann drückte es einmal so aus: "Ich fühle mich so, als ob ich jeden Tag aufs Neue in die Arena steige, um zu kämpfen. Das Leben dort draußen ist verdammt einsam. Deshalb wünsche ich mir so sehr, dass meine Frau in den Kampfpausen für mich da ist. Wenn sie meine intimen Bedürfnisse ernst nimmt, dann sagt das mehr als tausend Worte, dass ich für sie das Wichtigste auf der Welt bin."

 

Ängste und Sexualität

Paula Rhinehart schreibt von einem Paar, das zu ihr in die Beratung kommt. Die Frau berichtet: "Ich erzähle meinem Mann von den Dingen, die mich am tiefsten betreffen, und er guckt mich nur ausdruckslos an und verschwindet aus dem Raum." Für jede Frau ein nachvollziehbar schmerzliches Gefühl von Unverstandensein, Enttäuschung, Verrat. Paula Rhinehart schreibt weiter: "Ihr Mann fühlte sich genauso wie sie - nur dass sein Gefühl des Übersehenwerdens und der Ablehnung sexuellen Ursprungs ist. Der Durchbruch bei Paaren kommt meist dann, wenn die Partner sich von ihrer eigenen Angst zum Herzen des anderen führen lassen. Das furchtbare Gefühl, das mich überkommt, wenn mein Mann auf mein Bedürfnis, mit ihm zu reden, nicht reagiert, kann mir helfen zu verstehen, wie er sich fühlt, wenn er um Sex betteln muss. Die Schmerzen, die wir fühlen, können uns lehren und dazu motivieren, die andere Person in der Art und Weise zu motivieren, nach der sie oder er sich sehnt."

Ob wir uns als Frauen genügend bewusst sind, welche emotionale Bedeutung der eheliche Verkehr für unsere Männer hat? Sind wir nicht in Gefahr, ihr sexuelles Verlangen manches Mal als Triebregung abzutun, die meist dazu noch ungelegen kommt? Ob wir nicht - wenn wir besser um die wahren Motive wie Trost, Geborgenheit, Annahme, Selbstbewusstsein, Spannkraft wissen - gefühlvoller mit dieser zerbrechlichen Gabe umgehen können?

"Entzieht euch einander nicht ..." (1 Kor 7,5)
Es ist gefährlich für eine Ehe, wenn wir etwas Gutes, das wir dem anderen geben könnten, ihm vorenthalten. Der heilige Paulus, dessen Gedenkjahr am 28. Juni dieses Jahres eröffnet wurde, sagt: "Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeitlang, um für das Gebet frei zu sein ..." (1 Kor 7,5) Er drückt aus: Lasst eure Verbindung nicht an einen Punkt kommen, an dem einer von euch das Gefühl hat, dass die andere Person Liebe geben könnte, sie aber zurückhält. Das heißt nicht, dass ich als Frau immer und ständig bereit sein muss. Da darf ich auch nichts vorschützen, was nicht ist. Es heißt nur, dass ich meinen Mann verstehen lernen darf und sorgsam mit meinen "Absagen" umgehen muss, dafür aber dann ein anderes Mal auch aktiv um ihn werben darf.
Ein "Nein" ist immer leichter zu verarbeiten, wenn ich dazu sage: "Das hat nichts mit dir zu tun, ich finde dich gut! Nur gehen mir im Moment so viele Sachen im Kopf herum. Ich möchte mich auf dich einlassen, aber ich kann es jetzt nicht richtig. Darf ich zuerst erzählen, was mich umtreibt?" Manchmal ist vielleicht auch eine Zwischenmöglichkeit gut: "Zum Kuscheln hätte ich Lust. Ist das auch möglich?"

 

Sexualität: Gabe und Aufgabe

Ich stelle immer wieder - auch bei mir selbst - mit Erschrecken fest, wie sensibel wir uns als Frauen ausdrücken können, wenn es um unsere Kinder geht, wie wir uns aber eher schwer tun, die entsprechende Sensibilität und die richtigen Worte zu finden, wo es um die Sexualität mit unserem Mann geht. Vielleicht fragen wir uns einfach mal: Spreche ich offen und ehrlich darüber? Schweige ich lieber, anstatt zu sagen, was ich mir wünsche, was mich verletzt hat, welche Nuancen ich mir vorstellen könnte? Bemühe ich mich, zu fragen und herauszuhören, wie mein Mann darüber denkt, was er meint und sich wünscht?

Paulus scheint sehr offen und sehr ehrfürchtig mit all diesen Fragen umgegangen zu sein. Vielleicht ist das Paulusjahr auch nach dieser Richtung eine Chance: als Ehepaar aktiv neue Schritte zu wagen im gegenseitigen Verstehen und im gemeinsamen Entwickeln von Gesprächen und Formen, wie wir dieses Geschenk der Sexualität, das Gott uns Eheleuten gab, ausloten können, um aus ihm wirklich den Ort der Geborgenheit, der Heilung, der Leidenschaft und der Gnade zu machen, als das ER es uns gegeben hat.

 

Claudia Brehm
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 3/2008
www.zeitschrift-begegnung.de

 

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