Lost in Berlin © K. Glas

Die verlorenen Söhne

09.02.2011


Jungs schneiden in der Schule im Schnitt schlechter ab als Mädchen. Schuld daran sind pädagogische Leitbilder, die sich eher an den Stärken von Mädchen orientieren. Das väterliche Prinzip hat dabei in der Erziehung scheinbar kaum Platz. In der Pädagogik Pater Kentenichs hingegen spielt Väterlichkeit eine zentrale Rolle.

 

Als ich neulich aus dem Badezimmerfenster schaute, traute ich meinen Augen kaum. Unsere Jungs wuselten auf unserem Holzschuppendach hin und her und deckten lachend das angrenzende nachbarliche Scheunendach ab; die abgerissenen Teerpappenstücke warfen sie auf den Boden. Außer mir vor Wut, rannte ich die Treppe hinunter, schnappte die beiden und zerrte sie zum Nachbarn. Sie sollten sich entschuldigen. Im Gegensatz zu mir zeigte dieser Verständnis für den Bubenstreich und sagte: „So sind Jungs eben. Ich repariere das schon.“ Ich war natürlich erleichtert. Unsere Mädchen kämen nie auf solche Ideen, und ich dachte darüber nach, wie Jungs doch so viel anders ticken als Mädchen. Die Söhne raufen sich täglich, schnitzen Holzdolche und tragen zerknautschte Pokemonkarten, Murmeln und verrostete Schrauben in ihren Hosentaschen spazieren. Während die Mädchen mit Vorliebe tanzen, malen, basteln oder Blumenkränze flechten. Diese Andersartigkeit im Wesen zeigt sich erst recht im Erwachsenenalter. Männer sind Pioniere, Eroberer, Technikfreaks, Kopfmenschen, und sie haben allerlei andere Macken, die Herbert Grönemeyer so schön in seinem Lied „Männer“ besingt. Frauen sind in der Regel kommunikativer, haben mehr Sinn fürs Soziale, sind sprachbegabter und lassen sich eher von ihrem Herzen leiten – nur um einige Klischees aufzuzählen.

 

Neigungen nur anerzogen?

Diese Unterschiede gerade im Kindesalter werden heute vielfach übersehen und oft schwerlich akzeptiert. Männer und Frauen sollen alles gleich gut können. Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts hat sich nicht nur das Rollenverständnis von Mann und Frau gewandelt. Gleich zeitig hat sich die fixe Idee in den Köpfen festgesetzt, dass die wesensbegründeten unterschiedlichen Neigungen von Männern und Frauen nur anerzogen sind, ein künstliches Konstrukt, geformt von einem patriarchalischen Gesellschaftsgeist. Und dieser hat Frauen im Laufe der Geschichte immer unterdrückt. Damit müsse Schluss sein. Pater Kentenich hat diese Entwicklung erkannt. Er unterschied dabei eine Tätigkeitsrevolution von einer Seinsrevolution. Ersteres ist für ihn legitim. Frauen können durchaus in der Politik mitmischen, Jungen in der Schule nähen lernen und Männer den Abwasch erledigen. Würde aber ein grundsätzlicher Unterschied von Mann und Frau geleugnet, dann wird es gefährlich. Man müsse den Wesenskern bewahren – also das, was Gott in den Menschen hineingelegt hat. Ich kann mich an eine lebhafte Diskussion mit Kommilitoninnen erinnern. Es muss so Ende der 80er Jahre gewesen sein, und es ging um das Thema Emanzipation und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Ich sagte, dass keine Frau jemals auf die Idee käme, so etwas wie eine Atombombe zu bauen und wertete das durchaus positiv. Machomeinung hieß es: „Natürlich könnten das Frauen auch.“ Alles Argumentieren half nichts. Tatsächlich hat das durchaus legitime Ringen um Gleichberechtigung – man denke nur an die ungleiche Entlohnung in nahezu allen Branchen – viele Frauen blind werden lassen für eine differenzierte Sichtweise.

 

Sind Männer schlechtere Erzieher?

Das Ringen um die Gleichberechtigung hat die pädagogische Diskussion der vergangenen zwei Jahrzehnte stark bestimmt. Väterlichkeit wurde oft mit Gewalt gleichgesetzt, und Vätern jegliche Erziehungskompetenz abgesprochen. Diese Forderung konsequent im Erziehungsalltag umgesetzt heißt: Zwei Frauen erziehen ein Kind besser als Mann und Frau. Und auf die pädagogischen Leitbilder in Kindergärten und Schule übertragen, bedeutet das: Jede Form von Wildheit wird vorschnell als pathologisch eingestuft und als Vorstufe zur Gewalt gebrandmarkt. Eine solche Entwicklung gilt es im Keim zu ersticken. Beispiele gibt es zuhauf: Vor wenigen Wochen rief mich ein Freund an. Ganz außer sich erzählte er mir von seinem Sohn, der im Gymnasium die fünfte Klasse besucht und den seine Lehrerin zum wiederholten Male wegen Verhaltensauffälligkeiten ins Klassenbuch eingetragen hatte. Im Gespräch mit ihr erhielt er den Rat, seinen Sohn doch einmal ärztlich untersuchen zu lassen; es gebe ja heute zum Glück ruhigstellende Mittel wie Retalin. Es ist kein Zufall, dass Jungs drei bis neunmal häufiger an Aufmerksamkeitsstörungen leiden.

 

Jungs sind halt nicht so gut

Kann es sein, dass Mädchen heute mehr gefördert werden als Jungs? Man denke nur an den Girls Day, bei dem Mädchen in die Unternehmen ihrer Väter eingeladen werden und dort in typische Männerberufe schnuppern dürfen. Erste Tendenzen einer ungleichen Förderung sind bereits in der Grundschule erkennbar. Im Abschlussgottesdienst vor den Osterferien haben Schülerin nen aller vier Grundschulklassen bei uns in der Kirche eine Geschichte vorgelesen. Zehn Mädchen haben gelesen und kein einziger Junge. Die seien halt nicht so gut. Da passen die folgenden Zahlen ins Bild: Von 1990 bis 2004 ging die Quote der männlichen Abiturienten in Deutschland von 50 auf 43 Prozent zurück. Allein im Jahr 2004 haben 32 Prozent der Mädchen ihre Schullaufbahn mit dem Abitur abgeschlossen, aber nur 24 Prozent der Jungen. Und im Jahr 2005 brachen 16 Prozent mehr Jungen die Schule ab als noch im Jahr 1992. Es ist gut, dass Mädchen in den vergangenen Jahrzehnten bekommen haben, was sie brauchen und was ihnen zusteht. Und es gibt sicher viele Gründe, warum sich Jungs in unserem Schulsystem schwerer tun als Mädchen. Es muss aber die Anstrengung aller am Erziehungsprozess Beteiligter sein, dieses zu ändern. Die Schulleistungen von Jungen und deren Sozialkompetenz verbessern sich, wenn männliche Lehrer mit Jungen arbeiten. Dies beobachtet die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Ursula Rabe-Kleberg. Sie fordert daher, mehr Männer für die Vorschul- und Schulerziehung zu gewinnen. So schreibt auch die amerikanische Entwicklungspsychologin Penelope Leach: „Jedes Kind fragt nach Vater und Mutter. Wir stammen von zwei Menschen ab, und wir wollen wissen, wer die beiden sind. Wenn ich Kaffee mit Milch und Zucker will, ist es eben nicht dasselbe, wenn ich ihn ohne Milch aber dafür mit zwei Stücken Zucker bekomme.“

 

Väterlichkeit als erzieherische Kraft

Väterlichkeit im Sinne von Pater Kentenich bedeutet den Balanceakt zwischen gütiger Liebe und Sicherheit durch kraftvolles Fördern und Fordern. Der liebende Vater sollte in erster Linie barmherzig sein. Wenn die Liebesbedürftigkeit der Kinder ungestillt bleibt, suchen sie nach Ersatzbefriedigung, und Gewalt kann sich Bahn brechen. Gleichzeitig gilt es, dem Kraftpotenzial der Kinder, vor allem der Jungen, ein sinnvolles Betätigungsfeld zu bieten im Sport, im Schlagzeugspielen, in Kampfspielen etc. Sie müssen lernen, ihre Aggressionen gelenkt einzusetzen und auszuleben. Auch das Kräftemessen mit dem Vater ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Faktor. Ein Erzieher, sagt Pater Kentenich, muss das Gute in den Kindern sehen und gezielt fördern: „Was ist Gottes Grundhaltung? Die schöpferische Kraft der Liebe. Darf ich in diesem Zusammenhang hinweisen auf die Haltung des heiligen Don Bosco. Er ist zweifellos ein Genie. Worin bestand sein Geheimnis? Seine Erziehung war Erziehung zur Freude und Erziehung zur Liebe. Er hat den Seinen verwehrt, die Jungen zu schlagen oder sonst körperlich zu züchtigen. Und das waren Vagabunden und Straßenräuber. Für ihn war es die größte Strafe, dass er abends einem Jungen den Gutenachtgruß versagen musste.“ Wie Gott dürfe der väterliche Erzieher Liebe nicht an Bedingungen knüpfen. In seinem Testament schreibt Don Bosco: Wollt Ihr Eure Jugend tugendhaft haben, sie zum Gehorsam erziehen, müsst ihr sie lieben, und sie müssen das auch fühlen.

 

Aus: unser weg, Schönstatt Familienmagazin 2/2009

www.unserweg.com


 

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