Unterwegs in Paris © K. Glas

Erziehung konkret: Weibliche Stärken ins Spiel bringen

26.08.2009

 

Die Geburt unseres ersten Sohnes war für mich ein umwälzendes Ereignis. Mit meinem ganzen Wesen war ich nun darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse dieses kleinen Wesens zu entdecken und zu stillen. Manchmal konnte ich schon an der kleinsten Veränderung in seinem Verhalten erraten, was er als Nächstes brauchen würde. Im Nachhinein erkenne ich, dass diese Fähigkeit in mir bereits angelegt war, doch durch die Geburt der Kinder und das Dasein für sie wurde sie noch mal besonders geweckt, herausgefordert, weiterentwickelt.

 

Bedürfnisse erspüren und erfüllen

Die Bedürfnisse eines anderen Menschen wahrzunehmen, zu erkennen, was er jetzt braucht, und auf ihn zuzugehen, noch bevor er um etwas gebeten hat, ist eine typisch frauliche Eigenschaft. Beobachten wir eine gemischte Gruppe an einem Mittagstisch - ist es nicht oft die Frau, die darauf achtet, ob jeder etwas zu trinken hat, die die Schüssel noch einmal herumreicht, die mit einem Blick wahrnimmt, ob etwas fehlt und sich dann darum kümmert? Alltäglichkeiten, die zeigen, wo unsere Stärken als Frau liegen.

Frauen haben - neben dem Blick für die ganz alltäglichen Dinge - auch ein feines Gespür für Atmosphäre. Wenn ein Kind bedrückt nach Hause kommt, wenn jemand am Telefon anders als gewohnt reagiert, wenn die Freundin Sorgen hat - Frauen nehmen das meist sehr schnell wahr.

Ich denke, hier können wir Frauen einen unschätzbaren Dienst an unserer Familie, an der Gesellschaft und nicht zuletzt auch an uns selbst tun.

 

Bedürfnisse wahrnehmen ist das Eine. Oft spüren wir schon, was der andere braucht und reagieren sofort. Damit ist das momentane Bedürfnis gestillt. Wir können aber noch mehr tun. Wir können diese Fähigkeit einsetzen, damit unsere Kinder ihre eigenen Bedürfnisse erst einmal kennen lernen und ihre Wahrnehmung dafür stärken. Dies tun wir in der Erziehung meistens ganz intuitiv. Wenn wir unsere Kinder in den Arm nehmen und sie trösten, sagen wir dabei oft: "Bist du gefallen? Da hast du dir aber weh getan. Da muss ich dich erst einmal richtig trösten!" Damit erklären und deuten wir unseren Kindern, was sie in ihrem Inneren erleben. Manchmal sind unsere Kinder einfach ungehalten und schlecht gelaunt. Im Gespräch mit ihnen spüren wir die Ursache auf und machen sie ihnen bewusst. Manchmal kann man die Ursache beseitigen, zum Beispiel bei einem Streit, der durch eine Entschuldigung oder ein Gespräch beendet werden kann. Manchmal geht es auch nicht so schnell. Vielleicht ist der Sohn enttäuscht über die Reaktion eines Freundes. Ein Gespräch kann helfen, Klarheit in die Situation zu bringen. Handelt es sich nur um ein Missverständnis, das durch ein Gespräch mit dem Freund geklärt werden kann, oder ist die Enttäuschung berechtigt? Dann machen wir dem Kind Mut, dem Freund das in einer guten Weise zu sagen.

 

Helfen, Gefühle verstehen zu lernen

Wir können unseren Kindern helfen, nicht zum Spielball ihrer Gefühle zu werden. Eine unbestimmte Wut, eine undefinierte Angst, eine uneingestandene Enttäuschung - all das verliert die Hälfte an Dramatik, wenn es einmal ausgesprochen ist. Dann können wir einen Schritt zurückgehen und noch einmal objektiv darauf schauen. Im Gespräch über eine ungelöste Situation tun sich dann schnell neue Möglichkeiten auf.

Unsere Kinder werden Tag für Tag mit neuen Gefühlen konfrontiert. Wenn sie mit unserer Hilfe lernen, diese Gefühle einzuordnen, sie zu verstehen, ihre Ursachen zu erkennen, werden sie nicht einfach von ihnen hin- und hergeworfen, sondern können trainieren, sie positiv zu nutzen. Eine "Wut im Bauch" kann manchmal ganz nützlich sein, um sich zum Beispiel in der Schule einmal durchzusetzen. Kinder können lernen, dass Traurigkeit und Trauer zum Leben dazu gehören. Trauer muss durchgelebt, durchgestanden werden. Dabei können Kinder auch erfahren, dass das Leben dabei nicht stehen bleibt, dass sie oft viel mehr Kraft besitzen, als sie gedacht haben. Manchmal brauchen Kinder Nähe und Geborgenheit, um wieder aufzutanken. Dann suchen sie einen geschützten Rahmen. Manchmal suchen sie auch Distanz, um sich selbst zu finden, sich zu erproben. Wir können ihnen helfen, das herauszufinden und auch in Worte zu fassen. Damit lernen sie viel über sich selbst und damit auch über den Umgang mit anderen.

 

Gut für sich selber sorgen

Am meisten und schnellsten lernen Kinder allerdings immer noch durch das Vorbild. Und hier liegt wohl die größte Herausforderung. Die in uns Frauen grundgelegte Fähigkeit, Bedürfnisse anderer zu erspüren, kann auch dazu führen, dass wir nur noch die Bedürfnisse der Mitmenschen wahrnehmen und sie zu stillen suchen - und uns selbst dabei vernachlässigen. Manchmal ist es notwendig, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, besonders, wenn noch ganz kleine Kinder oder alte Eltern in der letzten Pflegephase zu betreuen sind. Ansonsten kann es uns allerdings auch leicht passieren, dass wir das gute Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen verlieren. Dann sind wir so in unserem Bemühen gefangen, allen zu helfen und es jedem schön zu machen, dass für uns selbst kein Platz mehr bleibt. Doch wenn wir uns selber körperlich und emotional über das Maß hinaus verausgaben, sind wir unseren Kindern kein gutes Vorbild. Daher ist es nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder gut, wenn wir auch unsere eigenen Bedürfnisse (neu) entdecken und beachten.

Und das erfordert manchmal Mut. In der Regel warten wir Frauen eher darauf, dass andere erkennen, was wir brauchen. Es fällt uns schwer, unsere eigenen Bedürfnisse auszusprechen und deutlich zu machen. Weil wir selbst versuchen, zuvorkommend zu sein, können wir nur schwer damit umgehen, wenn andere nicht so sensibel sind wie wir und unsere zarten Andeutungen nicht wahrnehmen und verstehen. Und dann kann es schon mal passieren, dass wir uns verletzt in unser Schneckenhaus zurückziehen und unsere Empfindsamkeit umschlägt in Empfindlichkeit. Diese feinen Regungen gilt es wahrzunehmen und anzuschauen. Sie sind zutiefst weiblich.

Sollten wir sie nicht bewusst stärken und für das Gute nutzbar machen? Unsere Empfindsamkeit kann eine Bereicherung für die gesamte Gesellschaft sein, wenn wir uns nur trauen, sie auch wirklich zu leben. Hier ein Beispiel, wie so etwas aussehen kann:

 

Ich möchte so gern, dass mein Mann mir bei einer Sache hilft. Ich bin wirklich erschöpft und müde. Natürlich hätte ich es am liebsten, er würde selbst sehen, wo es fehlt, und auf mich zukommen. Da Männer aber ganz anders reagieren als Frauen, können wir das nicht erwarten. Wenn wir uns nun überwinden und unser Bedürfnis ihm gegenüber ausdrücken, kann es uns passieren, dass der Mann nicht sofort begreift, was wir wollen. Vielleicht ist er gerade ganz in Gedanken und reagiert in unseren Augen abweisend. Nun könnten wir uns in uns zurückziehen, ein bisschen schmollen, beleidigt sein. Nur: Damit ist niemandem geholfen. Wenn es uns dagegen gelingt, unsere Empfindlichkeit zurückzustellen und unser Bedürfnis noch einmal freundlich und offen auszusprechen, hat unser Partner die Chance, uns das zu geben, was wir brauchen.

Ein solches Erlebnis gibt uns dann mehr Selbstbewusstsein und Mut, beim nächsten Mal eher und klarer unsere Bedürfnisse auszusprechen. Wenn unsere Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Geborgenheit, Hilfe und Liebe gestillt sind, dann sind wir stark und leistungsfähig für unser Aufgaben in Familie und Gesellschaft.

 

Den Grundstein für die Zukunft legen

Wenn unsere Kinder solches Verhalten an uns entdecken, hilft ihnen das, auch sensibler mit ihren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen umgehen. Das gilt ganz besonders auch im Hinblick auf Süchte, übermäßigen Konsum und die frühe Sexualisierung unserer Gesellschaft. Kinder, die ihre Bedürfnisse erkennen und aussprechen können, werden nicht so schnell zum Spielball ihrer Gefühle und Triebe. Sie müssen ein Gefühl der Leere nicht sofort mit Alkohol, den neuesten und angesagtesten Klamotten oder einer flüchtigen Bekanntschaft füllen, die nur kurzfristig befriedigen. Sie können lernen, auf die Stimme ihres Herzens zu hören und zu überlegen, was ihnen gut tut und was nicht. Wer in diesem Punkt sorgsam mit sich selbst umgeht, der ist auch sensibler für die Bedürfnisse anderer.

Wenn wir diese frauliche Eigenschaft in unserer Familie leben, legen wir einen wichtigen Grundstein für die Zukunft unserer Kinder - und der ganzen Gesellschaft.

 

Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 3 /2009
www.zeitschrift-begegnung.de

 

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