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Frei erzogen

23.05.2012


Dass ihre Kinder mit Freiheiten verantwortlich umgehen lernen ist der Wunsch vieler Eltern. Geborgenheit, Achtsamkeit und Vertrauen sind auf diesem Weg wichtige Bausteine.

 

Der zweijährigen Tochter einer Freundin wird an jedem Morgen die Frage gestellt, was sie denn heute anziehen mag. Es folgen kräftezehrende Diskussionen, wenn sie sich im Winter für das dünne Sommerkleid entscheidet und im Sommer den dicken Pulli auswählt. Auf die Anregung einer anderen Mutter, als sie wieder einmal über diesen „Zirkus“ klagte, ihr doch diese Entscheidung gar nicht erst zu überlassen, antwortet sie, sie müsse ihr Kind doch zur Freiheit erziehen.

Die Eltern einer 12-jährigen Klassenkameradin unserer Tochter hingegen legten fest, welche zweite Fremdsprache diese gegen ihren Willen zu erlernen habe: „Sie selbst kann doch noch gar nicht wissen, was sie im Leben mal wirklich braucht. Da haben wir als Eltern einen ganz anderen Überblick. Sie wird schon noch einsehen, dass das die bessere Entscheidung ist.“

 

Wenn ich mir diese beiden Beobachtungen anschaue, wird mir deutlich, in welchem Spannungsbogen sich die Frage nach der Erziehung zur Freiheit aufspannt. Wir als Eltern wünschen uns, dass unsere Kinder als Erwachsene einmal selbstbestimmt leben und Verantwortung für sich und andere übernehmen können und wollen. Sie sollen kreativ ihr Leben gestalten und ihrer von Gott geschenkten Persönlichkeit Ausdruck verleihen dürfen.

 

Wieviel Freiheit braucht ein Kind?

Dazu brauchen sie wachsende Freiheiten, in denen sie sich ausprobieren und ihre Stärken und Schwächen erleben dürfen. Sie brauchen Räume, in denen sie im gesicherten Rahmen Erfahrungen machen können, ihre Grenzen erleben dürfen, um dann neuen Mut zu fassen diese zu erweitern. Doch wieviel Freiheit lassen wir unserem Kind zu welchem Zeitpunkt? Für Nikolai ist es eine wirkliche Aufgabe mit den Herausforderungen der Schule umzugehen. Vom zweiten Schultag an hatten seine Eltern das Gefühl, dass ihn die Schule in seinem Leben nur stört. Nun denken sie aber, wie viele Eltern, dass Lernen und eine seinen Begabungen entsprechende Ausbildung zu einem zufriedenen Leben dazu gehört. Sie meinen auch, dass ein gewisser Erfolg in diesem Bereich das Selbstbewusstsein stärken kann. So versuchen sie einen Weg zu finden zwischen dem Formulieren von klaren Regeln und Anforderungen und auf der anderen Seite immer wiederkehrenden Gesprächen, bei denen sie mit ihrem Sohn herausfinden wollen, was er möchte und auf welchen Wegen er zu diesen Zielen gelangen will. Hier spüren sie, dass eine Entwicklung in Gang kommen kann, weg vom Willen der Eltern hin zu freieren und bewussteren Entscheidungen ihres Sohnes.

 

Raum für Wachstum

Es ist unsere Aufgabe als Eltern bei der Erziehung unserer Kinder das Leben zu fördern, das sich gerade in ihnen regt. Grundgelegt in einer guten und intensiven Bindung zu den Eltern in der Kleinkindzeit erwacht im Laufe einer gesunden Entwicklung des Kindes der Wunsch zu immer mehr Freiheitsgraden und zur selbständigen Gestaltung des eigenen Lebens. Kinder werden sich ihrer selbst, denn in ihnen liegt der individuelle freie Mensch bereits angelegt. Er will wachsen und sich entfalten. Unsere wichtigste Aufgabe als Eltern ist es, dieses Leben wahrzunehmen, wachsen zu sehen und ihm einen Raum zu geben. Wird es der 9-jährigen Tochter gelingen, die Strecke zur Freundin mit Bus und Zug zu bewältigen? Wird es der 15-jährige Sohn aushalten, für ein halbes Jahr in einem fremden Land mit fremder Sprache zu leben? Was für das eine Kind undenkbar erscheint, ist für seinen Bruder oder seine Schwester vielleicht genau das, was jetzt dran ist. Es bedarf also eines genauen Hinspürens und Hinhörens. Wir geben den Kindern keine Freiheiten, sondern möchten ihnen ermöglichen, mit ihren Freiheiten verantwortungsvoll, aber auch lustvoll umgehen zu lernen.

 

Loslassen zur eigenen Freiheit

Nach Carl Rogers, dem Begründer der Personenzentrierten Gesprächsführung, ist ein freier Mensch einer, der wollen kann, was er selbst für richtig erachtet. Das setzt voraus, dass das Kind einen guten Kontakt zu sich selbst entwickelt und dass es seinen eigenen Gedanken und Gefühlen trauen darf. Es entdeckt sich als individueller Mensch mit Begabungen und Grenzen. Nicht unser Bild vom Kind ist dabei entscheidend, sondern wir entdecken neugierig zusammen mit dem Kind das Bild, das in ihm liegt. Das setzt voraus, dass wir uns als Eltern lösen von den Vorstellungen, die wir von einem gelingenden Leben unserer Kinder haben. Das wird kein Leben nach Plan. Das schenkt aber ein großes Maß an Freiheit.

 

In Geborgenheit

Freiheit gilt es in diesem Zusammenhang auch von einer gewissen Beliebigkeit abzugrenzen. Zur Freiheitserziehung gehört Geborgenheit dazu. Da dürfen sie erleben, dass wir als Eltern sie in der Fülle der Möglichkeiten nicht alleine lassen. Durch unsere Wahrnehmungen, Impulse, Gedanken wollen wir sie herausfordern, das eigene Denken, Fühlen und Handeln bewusst zu machen. „Die Geschichte war sehr spannend, oder? Welche Person würdest Du darin gerne sein?“ „Du schaust Germanys Next Top Model? Was gefällt dir dran? Wie wirkt das auf dich?“ „Mir fällt auf, dass du dich mit den kleinen Nachbarsjungen so nett beschäftigen kannst! Hättest Du Freude daran, das als Babysitte öfter zu machen?“ Dass unser Handeln eine Wirkung hat und wir daher dafür verantwortlich sind, dürfen unsere Kinder so in vielfältiger Weise erfahren. Für den Künstler Joseph Beuys ist Erziehung zur Freiheit ein kreativer Prozess, in welchem Freiheit in dem Maße realisiert wird, in dem der Mensch fähig wird, die Welt und ihre Zusammenhänge zu erkennen: „Frei handeln kann man nur aus Erkenntnis.“ Christus habe, so meint Beuys, dem Menschen einen Weg zur Selbsterkenntnis und damit zur Freiheit gezeigt.

 

Und mit Vertrauen

Denn Freiheit hat wesentlich mit Vertrauen zu tun. Wir können die weiten Räume nur dann geben, wenn wir daran glauben, dass in unseren Kindern alles steckt, was sie zu einem erfüllten Leben brauchen und wenn wir fest davon überzeugt sind, dass sie von Gott geliebt und begleitet sind. Auch alle vermeintlichen Fehler, Irrwege und unverständlichen Aktionen sind Teil dieser Entwicklung. Aber Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade. In der Phase des Übertritts eines unserer Kinder versuchte ich eine sehr angespannte Mutter eines bedächtigen, aber willensstarken Mädchens davon zu überzeugen, dass ihre Tochter ihren Weg schon gehen würde. Ihr Antwort: „Du hast ja gut reden! Du glaubst ja auch an Gott!“ Wenn es uns gelingt unseren Kindern mit diesem Gottvertrauen anzuschauen, dürfen sie in Freiheit wachsen zu dem Menschen, der sie nach Gottes Idee sein dürfen.

 

in: "basis - Zeitschrift aus Schönstatt", 4/2012
patris-verlag.de


 

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