Foto: Wolfgang Dirscherl/ pixelio.de

Geschichte vom Birnbaum

19.11.2016


Ich bin ein Pflaumenbaum. Jedes Jahr bringe ich zuverlässig Frucht. Die Leute mögen die leckeren Früchte, die ich freigiebig her schenke. Sie freuen sich daran und zeigen sich dankbar. Einige naschen direkt vom Baum, andere backen einen Zwetschgenkuchen. Wieder andere erhitzen meine Früchte und verschließen sie luftdicht in Einmachgläsern; dann haben sie noch lange von mir.

 

Wie freute ich mich, als neben meinem Stamm ein neuer Spross aufging: „Ah, ein kleiner Pflaumenbaum! Der wird einmal wie ich.“ So hegte und pflegte ich ihn und beschnitt nur vorsichtig die zarten Zweige. Schneller als gewünscht wuchs der kleine Baum. Aus Zweigen wurden starke Äste. Eines Tages entdeckte ich etwas Merkwürdiges: da hingen zwei Birnen am Baum. „Nanu, so geht das doch nicht! Hässliche Birnen und keine kleinen geschmackvollen Pflaumen?“ So haderte ich mit meinem Schicksal. Aber, was ich auch tat, niemals kamen Pflaumen zum Vorschein. Ich redete dem kleinen Baum gut zu. Ich schimpfte mit ihm. Ich gab kluge Ratschläge, wie der Kleine doch noch richtige Pflaumen ausbilden könne. Vergebens, immer nur Birnen! Und manchmal, das war der Gipfel, bildete der heranwachsende Baum überhaupt keine Früchte aus. Absolute Verweigerung! „Na, wenn schon keine Pflaumen, dann wenigstens Birnen“, dachte ich verärgert.

 

Zum Birnbaum in meinem Garten kommen regelmäßig Besucher. Diese klettern hoch bis in die Krone. Sie spielen und lachen den halben Tag lang. Die jungen Leute mögen den Baum, so wie er ist: seine Stärke (ich sah nur Sturheit), seinen Mut (ich sah nur Übermut) und seine Lebensfreude (ich sah nur Spaß).

 

Ein Wort des „Menschen-Gärtners“ Josef Kentenich hat mich ermutigt, den Birnbaum zu akzeptieren und in seiner Art zu lieben: „Jedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit. Helfen Sie Ihren Kindern, ihre eigenen Talente zu entfalten. Nur das entwickeln, was in ihnen ist. Denken Sie daran: von einem Birnbaum kann man keine Pflaumen bekommen!“

 

A. S.


 

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