Wendeltreppe im Dt. Museum, München © K. Glas

Gute Bindung - gutes Leben

01.03.2011


Nicht berühren!“ stand auf den Brutkästen der Frühgeborenen. Schlimm für die Kleinen, denn sie weinten auch ab und zu, wenn sie keinen Hunger hatten und die Windel trocken war. Aber die Krankenschwestern nahmen sie nicht aus ihren Bettchen. Es war ihnen untersagt, weil man Angst hatte, die Frühchen könnten sich mit gefährlichen Krankheitserregern infizieren. Trotz bester technischer Ausstattung machten die Kinder gesundheitlich kaum Fortschritte. Aber die Säuglinge einer Station entwickelten sich prächtig. Das rief die leitenden Mediziner auf den Plan. Nach eingehenden Recherchen stellte sich heraus: die Nachtschwester der untersuchten Station hielt sich nicht an die Vorschrift. Sie hatte Mitleid mit den weinenden Babys – und streichelte sie regelmäßig.

 

Bedürfnis nach Bindung ist angeboren

Dieses Ereignis aus den 1980er Jahren zeigt: Körperkontakt ist notwendig für die körperliche und seelische Entwicklung ist. Warme Hände sind wichtiger als eine Wärmelampe. Ein kleines Kind kommt zwar vollständig, aber unvollkommen auf die Welt. So kann es Schmerzen und negative Gefühle noch nicht bewältigen. Dazu braucht es seine Mutter, die ihm dabei hilft, Angst und Ärger herunter zu regulieren. Dazu muss die Mutter angemessen auf die unzähligen Laute ihres Kindes reagieren. Geht die Mutter direkt und behutsam auf die Äußerungen ihres Kindes ein, entwickelt sich allmählich ein unsichtbar-liebevolles Band, das beide miteinander verbindet. Auf der Seite des Kindes ist das Band „festgemacht“ an dem angeborenen Bedürfnis nach Bindung, auf der Seite der Mutter an deren Feinfühligkeit.

Mütter und Väter: unterschiedliche, aber gleichwertige Aufgaben

Eine gute Mutter ist für ihre Kinder wie ein sicherer Hafen, der Schutz und Sicherheit bietet. Und ein guter Vater ist wie ein Kapitän, der sein Kind mitnimmt auf große Entdeckungsfahrt. Ein bisschen Columbus steckt in jedem Mann. Deshalb sind Väter oft risikofreudiger und lassen das Kind gehen, wenn es seine eigene Erfahrungen machen will. Das ist für die Selbstwirksamkeit auch wichtig. Jedes Kind muss die Erfahrung machen, dass es etwas bewirken und verändern kann. So wächst allmählich auch zum Vater hin ein Band, das an dessen Engagement für das Kind und dessen Freiheit und Freizeit gekoppelt ist. Väter und Mütter nehmen somit gleichwertige, aber unterschiedliche Aufgaben im Elternteam wahr. Typischerweise sind die Mütter eher für die Interaktion, die Väter eher für die Initiativen zuständig. Wie neuere Forschungen zeigen sind diese Verhaltensbereitschaften biologisch verankert und werden durch gesellschaftliche Erwartungen noch verstärkt.

 

Bereits mit 11 Monaten kann man anhand der von der amerikanischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelten „Fremde Situation“ feststellen, wie gut Mutter und Kind miteinander verbunden sind. Dazu wird eine künstliche Stress-Situation hergestellt, wobei Mutter und Kind durch eine Einweg-Scheibe von Psychologen beobachtet werden können. So wird das Kleinkind, das im Beisein seiner Mutter in dem schön eingerichteten Laborraum spielt, nach einigen Minuten mit einer fremden Person konfrontiert. Nach kurzer Zeit verlässt die Mutter den Raum, und das Kind ist mit der ihm unbekannten Frau allein. Sofort beginnt es zu weinen und krabbelt in Richtung Tür. Von der Fremden lässt es sich kaum trösten. Nach drei Minuten kommt die Mutter wieder. Wenig später wird der Stress noch gesteigert: das Kind ist für kurze Zeit ganz allein im Raum. Wie tragfähig das unsichtbare Mutter-Kind-Band geworden ist, kann man hinterher in der Videoaufzeichnung vor allem in jenen Episoden feststellen, in denen die Mutter wiederkommt. Bei einer guten Bindung krabbelt das gestresste Kind bei der Wiedervereinigung sofort auf die Mutter zu und lässt sich von ihr trösten. Dann nimmt es beruhigt sein Spiel wieder auf.

Schutzfaktor „Sichere Bindung“

In der Bevölkerung weisen etwa zwei Drittel aller Kinder das eben beschriebene „sichere“ Bindungsmuster auf. Ein Drittel der Kinder ist dagegen „unsicher“ gebunden. Solche Kinder zeigen beispielsweise eine eingeschränkte Emotionalität: sie weinen nicht, wenn die Mutter aus dem Zimmer geht, und sie nehmen scheinbar keine Notiz von ihr, wenn sie wiederkommt. Hinter der coolen Fassade brodelt es aber. Bei Untersuchungen konnte man einen höheren Pulsschlag und eine stark erhöhte Konzentration des Stresshormons Kortisol im Speichel dieser Kinder feststellen.

In den letzten Jahren hat man bei Kindern und Jugendlichen, die ein schweres Trauma durchgemacht haben, ein neues Bindungsmuster entdeckt. Wer als Kind emotionale Vernachlässigung, körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt hat, zeigt später oft „desorganisierte“ Verhaltensweisen, zum Beispiel plötzliche und unangemessene Wutausbrüche oder selbstverletzendes Verhalten, wie sich in die Arme ritzen.

Die Bindungsmuster kristallisieren sich im Laufe der ersten beiden Lebensjahren aufgrund tausender Einzelerfahrungen mit Mutter und Vater heraus. Sie hinterlassen – und das ist von großer Bedeutung – strukturelle Spuren im Gehirn. Das Gehirn eines sicher gebundenen Kindes sieht in der Feinstruktur in einigen Arealen anders aus, als das eines sexuell missbrauchten Kindes.

Frühe Bindungsmuster beeinflussen spätere Beziehungen

Wie ein junger Mensch seinem künftigen Ehepartner begegnet, wie er auf Stress und Enttäuschungen reagiert, wie er mit Kopf- und Rückenschmerzen umgeht - all das wird durch die im Hirn gebahnten Bindungsmuster wesentlich mitbestimmt. Der Schöpfer hat für Kinder, die eine schlechte Kindheit hatten, vorgesorgt: durch häufige und positive Begegnungen mit lieben Menschen, die ihm wie Vater oder Mutter sind, kann manches ausgeglichen werden. Die Auswirkungen von guten Bindungsbeziehungen im Erwachsenenalter durch Psychotherapie und Seelsorge lassen sich mittlerweile bei den Betroffenen bis auf die Ebene der Hormone und Moleküle nachweisen. Es werden neue Spuren im Gehirn angelegt, die immer häufiger genutzt werden und das Leben eines innerlich verletzten Menschen wandeln können.

Verbundenheit soviel als möglich, Vorschriften nur soviel als nötig

Schon zu Beginn der 1950er Jahre machte der charismatische Pädagoge und Priester Josef Kentenich auf „zerrüttete seelischen Bindungen“ in den Familien aufmerksam. Er empfahl deshalb Rat suchenden Eltern, maximal in die persönliche Beziehung zu ihren Kindern zu investieren. Sein Grundsatz lautete: Innere Verbundenheit soviel als möglich, äußere Vorschriften nur soviel als nötig. Für Kentenich war achtsamer Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes die wichtigste Voraussetzung einer liebevollen Bindung. Ehrfurcht vor dem Göttlichen im Nächsten war für ihn gewissermaßen das Flussbett für das Wasser der Liebe.

Josef Kentenich plädierte für ein lebenslanges Lernen im Sinne freiwilliger Selbst-Erziehung. Was er in einem anderen Zusammenhang in einfachen Versen formulierte, kann für jede Mutter und jeden Vater eine lohnende Anregung sein:

Dein Sein und Leben wirkt auf sie (die Kinder) zurück,
bestimmt ihr Missgeschick und mehr ihr Glück!“


 

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