Der Weg © Elvira Nink

Sie zeigt uns ihren Weg

14.09.2011


Zwei Kinder der Familie I. wurden mit schweren Behinderungen geboren.

Wie lässt sich Familie leben mit gesunden, leistungsstarken Kindern und gleichzeitig mit solchen, die mehr Zeit und Zuwendung brauchen?

 

Alleine zurückgelassen

Als unser viertes Kind mit einem schweren, angeborenen Herzfehler zur Welt kam und gleich nach der Geburt mit dem Hubschrauber nach Kiel in die Uniklinik verlegt wurde, wussten wir nicht, ob wir es noch einmal lebend wiedersehen würden. Wir standen da, alleine zurückgelassen und hatten unserem neugeborenen Kind nichts weiter mitgeben können, als es vor dem Abflug auf der Intensivstation im Kreis der Familie noch taufen zu lassen. Es folgte eine lebensgefährliche Operation, die Genesung und der immerwährende Spagat zwischen den restlichen Kindern zu Hause und dem kranken Kind. Zum Glück hat unsere Lieske diese Zeit toll gemeistert, ohne große Komplikationen und mit einem guten Ergebnis, sodass sie heute bis auf die regelmäßigen Kontrollen beim Kardiologen normal aufwachsen darf.

 

Die Ängste um das Baby lähmten

Irgendwann standen wir dann vor der Frage, ob wir noch ein weiteres Kind haben wollten. Natürlich spielte bei dieser Entscheidung dieses Erlebnis eine große Rolle. Die Ängste um das Baby und die schwierige Situation standen schnell wieder deutlich im Raum und lähmten uns. Wir erinnern uns gut, dass Lieske damals im sehr charmvollen Alter von circa einem Jahr war und uns alle um den kleinen Finger wickelte. So fiel uns die Entscheidung letztlich nicht schwer und wir beendeten unsere Zweifel mit dem Gedanken: Was kann schon noch viel Schlimmeres passieren? Mit Lieske dürften wir es doch wohl „hinter uns“ haben.

 

Krankenhauskarriere

21 Monate später hielten wir unsere fünfte Tochter im Arm. Marle hatte von Anfang an große gesundheitliche Probleme, schlief eigentlich nie, weinte sehr viel und spuckte sehr große Mengen Milch zu jeder Tageszeit. Schon mit wenigen Wochen lag sie zum ersten Mal in der Kinderklinik, wurde am Darm operiert und startete damals, meist bedingt durch ihr Loch im Zwerchfell, eine Krankenhauskarriere mit sehr vielen Aufenthalten. Als sie knapp ein halbes Jahr alt war, kamen noch andere Schwierigkeiten hinzu: Sie konnte sich nicht so bewegen, wie unsere an deren Kinder. Es begann ein Untersuchungsmarathon, an dessen Ende feststand, dass sie schon vor der Geburt einen Schlaganfall gehabt haben muss. Die Ärzte konnten uns nicht zusichern, ob unser Kind jemals würde laufen und ohne Windeln leben können. Wie fit sie geistig sei, könne man uns ebenfalls nicht sagen. Viele verschiedene Therapien wurden angeordnet und bestimmten fortan unseren Tagesrhythmus – bis heute.

 

Wir standen stumm daneben

Wir als Eltern standen stumm daneben, sahen unser süßes kleines Mädchen und spürten die unendlichen vielen schlaflosen Nächte, die sie uns schon gebracht hatte, sahen die vielen Termine, die in der großen Familie abgearbeitet werden mussten, und wir sahen die großen Probleme, die unser Kind hatte in dieser Welt zu stehen.

 

Warum wir schon wieder?

Warum schon wieder eines unserer Kinder? Eigentlich haben wir uns diese Frage nie wirklich gestellt. Gerade Marle hatte immer eine Art an sich, die uns so viel zurückgeschenkt hat, die uns für all das belohnt hat, was sie uns durch ihren Zustand „antat“. Sie ist ein so selbstbewusstes, fröhliches Mädchen, das so selbstverständlich ihren Weg geht, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch uns sehr gut IHREN Weg zeigt.

  • Sie hat laufen gelernt, wenn auch erst mit 30 Monaten, wenn auch nur mit ihren Hilfsmitteln.

  • Sie hat gelernt, ohne Windeln zurecht zu kommen, wenn auch erst mit fünf Jahren.

  • Sie besucht die Regelschule im Ort, wenn auch mit Hilfe einer Integrationskraft, die ihr zur Seite steht.

 

Für ihre Geschwister war Marle immer einfach nur ihre Schwester. Sie braucht Hilfe bei vielen Dingen, die sie selbstverständlich übernehmen. Wie oft haben die Großen sie zum Spielplatz geschleppt, damit sie dabei sein konnte; sie haben sie an den Händen gefasst, damit Marle beim Tanzen dabei war …

 

Das Leben von der anderen Seite

Nein, es ist nicht schlimm, besondere Kinder zu haben. Sie lehren uns viel und sie schenken uns neue Erfahrungen und Blickwinkel, die uns ohne sie verborgen geblieben wären. Sie zeigen uns, wie wenig plan - bar das Leben ist und wie wir vertrauen dürfen. Wir entdecken das Leben von einer ganz anderen Seite, nehmen vieles nicht mehr selbstverständlich, was früher viel zu selbstverständlich war.

 

Mutig in die Zukunft schauen

Wir dürfen unserem Schöpfer im Himmel vertrauen und mutig in die Zukunft schauen. Nach unseren beiden besonderen Mädchen wurden uns noch weitere drei gesunde Kinder geschenkt. Auch das ist ein neues, ganz besonderes Geschenk, spüren zu dürfen, wie selbstverständlich normal und ganz ohne Therapien sie groß werden dürfen.

 

Familie I.

Aus: unser weg, Schönstatt Familienmagazin 1/2010

www.unserweg.com


 

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