Nicht nur Schüler: Jugendlicher Biker © K. Glas

Unser Kind ist nicht nur Schüler - Vom Umgang mit schulischen Krisen

18.08.2010


Die Sommerferien sind vorbei. Die Zeit des Aufatmens für Mütter auch ... "Das Schönste an den Ferien ist", sagte neulich eine Mutter, "dass ich meine Nachmittage nicht damit verbringen muss, mich mit Hausaufgaben und unmotivierten Kindern abzuplagen und dabei meine eigentlich gute Beziehung zu ihnen ständig aufs Spiel zu setzen". Schulkrisen schlagen sich schwer im Familienalltag nieder. Wie viel Frust, Ärger, Wut und Sorgen kommen aus dieser Ecke?! Leicht passiert es dann, dass Schulschwierigkeiten unseren Blick auf unsere Kinder einengen und den Alltag nur noch unter dem Primat der Schule erscheinen lassen. Doch so viel Gewicht steht der Schule nicht zu.

 

Erstberufung: Kind sein

Unsere Kinder sind Persönlichkeiten, von Gott geliebt und ins Dasein gerufen. Ihre erste Berufung ist, Kind zu sein. Und das heißt: Zeit haben, sich entwickeln dürfen, Fähigkeiten entdecken dürfen: die Perlen, die Gott ganz individuell in es hinein gelegt hat. Kind sein heißt auch: ausprobieren dürfen, waghalsig sein, unbeschwert sein, Erfahrungen machen dürfen, sich anlehnen dürfen, geborgen sein, für eigene Dinge verantwortlich sein, Konsequenzen spüren dürfen, nicht alle Probleme aus dem Weg geräumt bekommen – denn "wer Probleme meidet, schrumpft".

Bei all dem ist Schule ein Lernfeld, aber bei weitem nicht das einzige. Durch Sätze wie: "Wer nicht aufs Gymnasium geht, bleibt später arbeitslos!" "Der Konkurrenzkampf ist hart, da bekommen nur die Besten ein Auskommen" und so weiter wird in uns Eltern die Angst geschürt, es sei alles verloren, wenn unsere Kinder in der Schule nicht bei den Besten sind. Angst aber macht eng und unruhig. Angst macht auch ungerecht und nörglerisch. Eigenschaften, die, wenn wir sie zulassen, der Entwicklung unserer Kinder kontraproduktiv gegenüber stehen.

 

Katastrophenstimmung führt nicht weiter

Bei Krisen in der Schule gibt es drei Möglichkeiten: Entweder es ist eine vorübergehende Krise und das Kind fängt sich wieder. Dann führt die ausgerufene Katastrophenstimmung zu nichts und ist völlig fehl am Platz.


Die zweite Möglichkeit: Vielleicht hat das Kind Schwierigkeiten, weil sein "Lernknoten" erst später platzt. Zwar sind gleichaltrige Kinder in den Klassen zusammengefasst, aber Kinder, die im September neun Jahre als werden, sind mit Kindern zusammen, die erst im darauffolgenden Juni soweit sind. In diesem Alter machen einige Monate schon etwas aus. Dazu kommt, dass nicht jeder genau dann die Leistung erbringen kann, wenn sie gerade in der Schule gefordert wird. Ein zu früh aufgedrückter Stempel "tut sich schwer, zu dumm, zu faul" verletzt das kindliche Selbstvertrauen. Und weder Druck noch Ermahnungen oder Streit können den richtigen Zeitpunkt nach vorne verlegen.

Die dritte Möglichkeit: Das Kind hat mit schulischem Lernen generell "nichts am Hut". Es geht seinen Weg ohne guten Schulabschluss. Auch hier hilft kein Weltuntergangsszenario. Viele ehemals schlechte Schüler stehen in ihrem Leben "ihren Mann oder ihre Frau", und ein guter Schüler gewesen zu sein, bedeutet nicht gleichzeitig, dass man später automatisch einen guten Beruf bekommt und lebenstauglich ist. Selbst Lehrer berichten – was wir alle selbst durch einen Blick in unsere Verwandtschaft und Bekanntschaft feststellen können – von ehemaligen Schülern, die zu Schulzeiten im letzten Drittel lagen und später leistungsmäßig explodierten, Abschlüsse nachmachten oder Zusatzqualifikationen erzielten. Anstatt meine mütterliche Phantasie ins Kraut schießen zu lassen und mir schon auszumalen, dass mein Kind eine gestrandete Existenz werden wird, täte ich also besser daran, den Gedanken zuzulassen: Mein Kind ist jetzt noch nicht so weit, der richtige Zeitpunkt kommt noch!

 

Das Kind in seiner Ganzheit sehen

Mir als Mutter darf es um mein Kind in seiner Ganzheit gehen, nicht nur um sein Schülersein. Jungen tun sich in der Regel in der Schule schwerer – und haben es oft auch schwerer. Das bedeutet für mich als Mutter, ich bedaure nicht, dass ich einen Jungen habe, sondern freue mich an seiner jungenspezifischen Art. Jungen brauchen mehr Strukturen als Mädchen, sie brauchen einen klar strukturierten Unterricht und klar strukturierte Hausaufgabenzeiten: immer zur selben Zeit, am gleichen "anregungsarmen" Ort, mit denselben Methoden. Und wenn er murrt und Auswege sucht, muss ich fest bleiben. Das hilft ihm bedeutend mehr, als wenn ich mich "weich kochen" lasse – denn damit nehme ich ihm wieder die für ihn notwendige Struktur. Jungen stellen schnell fest, dass Mädchen in der Regel schulisch besser sind – dabei fällt ihnen verlieren so schwer. Schule ist oft vertextet und damit mehr auf Mädchen ausgerichtet. Jungen verfügen von ihrer Gehirnstruktur her meist stärker über naturwissenschaftliche Fähigkeiten als über sprachliche. Und gleichzeitig ruft die Lebendigkeit, der Wettkampfgeist und die Risikofreudigkeit der Jungen bei weiblichen Lehrkräften, die ja meist in der Überzahl sind, leicht Abwehr und Angst hervor.

 

Den Erfolg an anderer Stelle suchen

Wer in der Schule keinen Erfolg hat, der leidet nicht nur, der sucht den Erfolg an anderer Stelle. Hier sind wir Eltern gefragt, mit unserem Kind auf "Expedition" zu gehen und zu erkunden: Was ist deine Leidenschaft? Wo liegt das "Riesengeschenk", das Gott in dich hinein geschaffen hat? Das aber bedeutet für uns als Eltern ein Umdenken, ein Umwerten: Ich freue mich genauso über das außerordentliche Können im Fußball, über die geschickten Hände und die sprühende Phantasie beim Basteln, über den praktischen Handwerker und die begabte Leichtathletin, wie ich mich spontan über eine Eins in Mathe freuen würde.

 

In den verschiedenen Zeitepochen sahen die Ausweichmöglichkeiten recht verschieden aus. Fanden Kinder früher in Banden oder Freundeskreisen Bestätigung im freien Spiel im Hinterhof, in Feld und Wald, so ziehen sie sich heute mit Vorliebe in virtuelle Welten zurück (meist eher die Jungen) oder suchen krampfhaft Erfolg beim anderen Geschlecht (meist eher die Mädchen) oder beim Internetportal "Wer kennt wen" im Netz. Hier ist dringend unsere elterliche Erziehung gefordert. Die Schwierigkeit dabei ist allerdings, dass wir keine Vorbilder haben, an denen wir ablesen können, wie wir reagieren sollen, denn unsere Eltern mussten sich mit diesen Fragen noch nicht auseinandersetzen. Aber unsere Kinder nehmen uns zum Vorbild, ob wir wollen oder nicht. Klare Absprachen, wer wie lange und wo im Netz bleibt, schützen vor dem täglichen Zermürbungskrieg, ebenso das Praktizieren mindestens einer Sportart oder einer musikalischen oder sozialen Betätigung, um dem realen Leben auf der Spur zu bleiben und nicht nur "totes Leben" aus der Computerkonserve zu pflegen.

 

Ich bin nicht mein Kind

Schulstress, Schulschwierigkeiten und -versagen fühlen sich schlimm an für die Kinder, aber in unserer Zeit besonders auch für die Eltern. In unserer Großelterngeneration bekamen Kinder eine Ohrfeige und den Hinweis: "Pass halt besser auf!" oder "Beleidige den Lehrer nicht, sonst kannst du was erleben!" – und damit wandten sich die Eltern wieder den wirklich wichtigen Dingen zu: der Landwirtschaft oder der kalbenden Kuh.

Wo bleibt unsere Gelassenheit, die man doch von lebenserfahrenen Menschen erwarten könnte? Wo bleibt unser Vertrauen, dass unsere Kinder ihren Weg schon machen werden? Ist es nicht so, dass wir Eltern uns selbst als Versager wahrnehmen, wenn unser Kind in der Schule nicht gut ist? Der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff erklärt diese Einstellung damit, dass heutige Eltern sich mit ihren Kindern (über-)identifizieren. Wenn das Kind Kritik oder eine schlechte Note erhält, empfinden sie das als Kritik gegen sich selbst. Frühere Eltern sahen sich eher losgelöst von ihrem Kind, heutige Eltern sind stark verquickt mit ihm. Die Grenzen zwischen Eltern und Kind sind damit nicht mehr klar. Deshalb neigen Eltern bei schulischen Problemen dazu, emotionsgeladen einzugreifen, in Abwehrhaltung zu gehen und die Schuld ausschließlich im System Schule und beim Lehrer zu suchen. Ein konstruktives Suchen nach Ursachen und hilfreichen Veränderungen wird dadurch jedoch unmöglich gemacht.

Also ist ein gesunder Abstand gefragt: Ich bin nicht mein Kind! Diese Einstellung lässt gelassener und kreativer mit Schulschwierigkeiten umgehen. Interessanterweise erklärt Dr. Winterhoff das Phänomen, dass Eltern sich mit ihrem Kind identifizieren, mit dem Religionsverlust unserer Tage: Wenn ich an nichts glaube, brauche ich trotzdem etwas, an das ich glauben kann – und dazu hole ich jetzt mein Kind und stelle es auf den Sockel. Glaube ich an Gott, habe ich ihn als Gegenüber, mit dem ich reden kann, weiß mich abhängig und geborgen und behalte den Blick für die richtigen Wertmaßstäbe.

 

Den "Wertblick" trainieren

Der Bildungsforscher Ulrich Trautwein sagt: "Eltern müssen sich darüber klar sein, dass schlechte Schulnoten nicht automatisch eine Bankrotterklärung für ihre Erziehungsleistung sind." Das Gewissen, das direkt mit Fragen zuschlägt – Habe ich mich zu viel oder zu wenig um das Kind gekümmert? Habe ich es unter Druck gesetzt? Habe ich ihm zu viel durchgehen lassen? Habe ich zu wenig mit ihm gelernt? – und die Scham, wenn andere von ihren "Überfliegern" erzählen, führen schnell dazu, dass schulische Probleme zum Dauerfamilienthema werden und ständig der Teufel an die Wand gemalt wird – sprich: Horrorszenarien, wie übel in der Zukunft alles enden wird: Beruf, Karriere, Geld ...

Bei meiner Freundin, die ein Legasthenie-Kind und ein rechenschwaches Kind hat, hängt ein Spruch eingerahmt an der Wand des Esstisches, wo die Hausaufgaben erledigt werden (Fachleute würden sagen: Unmöglich, jedes Kind braucht seinen Schreibtisch und sein Zimmer! Sie hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass es hier am Esstisch besser geht!): "Wir sorgen uns, was morgen aus unserem Kind werden wird, dabei vergessen wir, dass es heute schon jemand ist." "Dieser Spruch hilft mir", so erzählt sie, "bei den Hausaufgaben unendliche Geduld an den Tag zu legen und den "Wertblick" nicht zu verlieren auf meine kostbaren Kinder, die zwar nicht erfolgreich in der Schule, aber einzigartig in ihrer Art zu leben, zu lachen und zu lieben sind."

 

Entscheidend: unseren Kindern nahe bleiben

Entscheidend ist es, unseren Kindern nahe zu bleiben, egal wie heftig sie schulisch versagen. Auch "nicht-schulkompatible" Menschen können es in ihrem Leben zu etwas bringen, wie viele Beispiele zeigen. Gott hat uns dieses Kind anvertraut, und er hat viele Fähigkeiten in es hinein gelegt; diese werden wir ihm – gespannt und neugierig – entdecken helfen. Und dann mag es später vielleicht keine glänzenden Schulnoten im Zeugnis stehen haben, aber fürs Lebenszeugnis hat es viel Kompetenz erworben: Wie gehe ich mit Frust um? Was ist im Leben und beim Menschen wirklich wichtig? Wie gehe ich mit meinen Grenzen um? Was sind meine besonderen Fähigkeiten? Goethe hat es einmal so ausgedrückt: Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten, und du hilfst ihnen, zu werden, was sie sein können.

Nachts beim schlaflosen Nachdenken über manche Schwierigkeiten unserer Kinder fällt mir manchmal der rettende Satz von Schwester M. Emilie ein: Jetzt beten wir erst einmal, und dann wird sich schon eine Lösung finden. – Und die purzelt dann oft gleich mehrfach in den nächsten Tagen:

 

- Gesprächssituationen schaffen, die überhaupt nichts mit Schule zu tun haben;

- Erfolgserlebnisse in anderen Bereichen ermöglichen;

- Ganz besonderes Interesse, Wertschätzung auf das Kind konzentrieren;

- Fotos aus früheren Zeiten anschauen, wo deutlich wird: Es ist geliebt;

- Mit dem Kind allein etwas planen und durchführen, wo es federführend tätig sein kann;

- Selbst als Mutter Zeit mit Gott verbringen und Geborgenheit bei ihm suchen – das weitet den Blick für das wirklich Wichtige und löst aus dem engen Blick auf Schule, Kind und Leistung. Das Kindsein vor Gott lässt mich auch mein eigenes Kind besser verstehen.

 

Neue Sicht, neue Gelassenheit

Es ist keine Kunst, einem leistungsstarken Kind Wertschätzung entgegen zu bringen, wohl aber einem leistungsschwachen. Und wenn die "coolen" Mütter sich dann wieder über ihre leistungsstarken Kinder unterhalten und vor Stolz fast platzen, höre ich zu, freue mich über ihr vermeintliches Glück und sage: "Danke, Gott, dass du mir durch mein Kind ganz neue Wege der Zufriedenheit und Lebenstiefe eröffnest."

Impuls

- Welche Aussage berührt mich besonders?

- Gibt es eine Anregung, an der ich persönlich weiterdenken will?

- Welcher konkrete Schritt bietet sich für mich an?

 

Aus: BEGEGNUNG – Zeitschrift für Frauen aus Schönstatt – 3/2010

www.zeitschrift-begegnung.de


 

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