Junge springt mit Dirtbike © K. Glas

Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden

24.09.2009


"Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden." Als ich diesen Titel einer Veranstaltung las, kam ich gerade von einer völlig verzweifelten Mutter, die mir ihr Leid geklagt hatte. Sie führte eine harmonische Ehe, hatte einen Sohn im Alter von sechs Jahren, und trotz des Betriebs ihres Mannes hatte sie sich entschieden, bei ihrem Kind zu bleiben. Sie nahm sich viel Zeit für den Jungen, förderte ihn altersgemäß und bemühte sich, die christlichen Werte zu leben. Aber: ihr Kind war extrem frech, hatte keinerlei Frustrationstoleranz, gehorchte nur, wenn es Lust dazu hatte. "Ich habe mir geschworen, das Strenge, Unnachgiebige, das meine Eltern in unserer Erziehung hatten, wegzulassen. Ich wollte mein Kind partnerschaftlich behandeln und all die Fehler vermeiden, die meine Eltern machten. Ich dachte, das sei mir auch ganz gut gelungen - aber das Ergebnis jetzt ist einfach schrecklich: Mein Kind hört nicht, egal, was und wie ich es sage, ja, es beginnt, mich herumzukommandieren. Was habe ich nur falsch gemacht!?"

 

Ähnliche Szenarien lassen sich heute immer öfter beobachten. Dabei fällt auf, dass es sich in vielen Fällen um Kinder aus intakten Familien handelt, um Kinder also, bei denen die üblichen Erklärungsmuster "kaputte Beziehungen", "Vernachlässigung", "ungünstiges soziales Umfeld" nicht greifen. Was ist passiert?

 

Schleichende Veränderung

"Seit 25 Jahren entwickelt sich bei uns eine neue Gesellschaft." So die Meinung des Kinderpsychotherapeuten Dr. Michael Winterhoff, der seit mehr als zwei Jahrzehnten eine eigene Praxis hat und mit seinem neuen Bestseller-Buch "Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden" markant in die pädagogische Diskussion eingreift. Als ich seinen Vortrag gehört und sein Buch gelesen hatte, wurde mir manches klarer: im Blick auf mein eigenes Erziehungsverhalten, im Blick auf die verzweifelte Mutter, mit der ich davor geredet hatte, und nicht zuletzt im Blick auf das, was sich zur Zeit in unserer Gesellschaft abspielt.

 

Hauptsache partnerschaftlich?

Die Einschätzung von Dr. Winterhoff: Maßstäbe und Werte unserer Gesellschaft, die bis vor etwa 20 Jahren noch gültig waren, wurden im Lauf der Zeit immer stärker missachtet und als verächtlich dargestellt. Die Folgen davon sind: immer weniger Klarheit, immer weniger Grenzen, immer weniger Vorbilder. Das früher herrschende traditionelle Denksystem, bei dem Eltern Maßstäbe und Grenzen setzten und Orientierung gaben - zum Beispiel: Kinder muss man schützen, man bespricht nicht alle Themen mit ihnen, sie gehen zu einer bestimmten Zeit ins Bett, sehen nur unter Aufsicht fern, spielen viel mit anderen -, wurde abgelöst von einem sich partnerschaftlich nennenden Denk- und Verhaltensmodell. Die Grundlagen für dieses Modell sind aus der sogenannten "68-er-Generation" geboren und in die Erziehungskonzepte der Siebziger, Achtziger und Neunziger Jahre eingegangen. Das Hauptziel bestand darin, den früher geltenden Autoritätsbegriff zu schleifen. Erziehen im Sinne von Leiten und Führen galt nun als höchst verdächtig und klang nach alter Kriegsgeneration. In den Köpfen der Erzieher und Erzieherinnen setzte sich langsam, aber sicher ein Weltbild durch, das dem Einzelnen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung zugestehen wollte: Kinder sollten nicht mehr von Erwachsenen gesagt bekommen, was für sie gut und schlecht sein könnte, im Gegenteil: Um zu selbstbestimmten, starken Individuen heranzuwachsen, sollten sie sich möglichst wenig von der Erwachsenenwelt beeinflussen lassen, ja, sie sollten sich weitestgehend "frei", weitestgehend nur aufgrund eigener Erfahrung - entfalten.

 

Freiheit über alles?

Folgen dieses überspitzt partnerschaftlichen Denk- und Erziehungsmodells sind: Im Kindergarten, in dem es vor rund zehn Jahren noch gleichbleibende Tagesabläufe gab - Freispiel, Basteln, Frühstückspause, Stuhlkreis, Spielplatzzeit -, in dem jedes Kind zu einer festen Gruppe gehörte und die Bezugspersonen dieselben blieben, entstanden plötzlich "offene Gruppen": Jedes Kind "darf" nun selbst entscheiden, wo es ihm heute vermutlich am besten gefallen wird, jeden Tag darf es einem von ihm persönlich zusammengestellten Tagesablauf - frei nach Lust und Laune - frönen. Die Maxime: freie Entscheidung der kleinen Persönlichkeit über alles!

In der Schule wurde der bis dahin übliche Frontalunterricht abgelöst. Nun gibt es nette kleine Gruppentischchen, damit die Kinder - statt wie bisher auf den Lehrer und die Tafel - ins Gesicht ihres Kameraden schauen können. Denn: Lernen soll ja Spaß machen, und es braucht für keinen mehr ersichtlich zu sein, dass der Lehrer hier der Chef ist und dass das, was er sagt, zu gelten hat. Vom Auswendiglernen ist man ganz abgekommen, denn Wiederholen und Üben sind "alte Zöpfe", die dem armen Kind das so anstrengende Lernen vermasseln. Besser kann es bei Laune gehalten werden, wenn möglichst viele verschiedene Eindrücke abwechselnd an ihm vorübergleiten, in einer möglichst bunten Lernatmosphäre (die unglaublich ablenkend wirkt).

 

Das Gebot der Stunde

Nach Dr. Winterhoff sind es drei Dinge, die möglichst schnell verändert werden müssen, damit die Zahl der Kinder, die sich als Tyrannen aufspielen und nicht mehr zu erziehen sind, nicht immer noch weiter anwächst.

 

Kinder wieder als Kinder begreifen

Eltern, Erzieher und Lehrer begegnen Kindern als Partnern und akzeptieren, dass das Kind die Führung übernimmt. Die früher unsichtbare, aber klar definierte Grenze zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt ist dadurch aufgehoben. Eltern müssen ihre Elternrolle annehmen und wieder Maßstäbe und Grenzen setzen, sonst gestehen sie ihren Kindern eine Reife zu, die sie aufgrund ihres Alters noch gar nicht haben können - und später auch nicht mehr entwickeln. Kinder brauchen - gerade in unserer multimedialen verwirrenden Gesellschaft - nichts dringender als feste Vorgaben und Strukturen, die Orientierung und Sicherheit bieten, sie brauchen Erwachsene, die eine klare Richtung vorgeben und ihnen Vorbild sind. Anders kann sich ihre Psyche nicht gesund entwickeln.

 

Viele Eltern und Erzieher/innen gehen heute davon aus, dass sich die Psyche des Kindes von selbst entwickelt, doch diese Annahme ist falsch. Die kindliche Psyche bildet sich dadurch aus, dass das Kind ein erwachsenes Gegenüber als Begrenzung der eigenen Person wahrnimmt. Mit der Zeit wird es dann immer wichtiger, dass an die Stelle der Begrenzung der eigenen Person das Vorbild tritt: dass Kinder psychische Funktionen an ihren Eltern erkennen und diese durch ständiges Training bei sich selbst ausreifen lassen. Nur durch ständiges Training und zahllos wiederholte Vorgänge über Jahre hinweg erreiche ich, dass das Kind zum Beispiel seine Schuhe auszieht, wenn es in den Wohnbereich eintritt, dass es mithilft, den Tisch zu decken, dass es Frustrationstoleranz entwickelt, dass es fähig ist, Besitztümer mit anderen zu teilen ... Aber: vielen scheint Üben heute verpönt. Das sei zu langweilig für das Kind, es brauche immer neue Reize. Und so erlahmen Eltern schnell. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Kind protestiert und man es nicht überfordern möchte. So werden diese wichtigen "Trainingsvorgänge", die zur Ausbildung einer gesunden Psyche führen, leicht vernachlässigt.

 

Eltern dürfen sich nicht über ihre Kinder definieren

Es fällt auf, dass viele Eltern sich heute einen Teil ihres Selbstbewusstseins über das Verhalten ihrer Kinder zu holen scheinen. Eltern, die geliebt werden wollen, setzen ungern Grenzen. Sie vermeiden alle Situationen, auf die das Kind negativ reagieren könnte, denn diese Negativreaktion deuten sie als Liebesentzug, den sie nicht ertragen wollen oder können. "Als Säugling muss man nur quaken, dann kommt die Brust. Wenn man Kindern über das Säuglingsalter hinaus permanent die Brust reicht - ihnen also jeden Wunsch sofort erfüllt - bleiben diese Kinder zeitlebens in dieser Phase stecken" (Dr. Winterhoff). Aber wir haben unsere Kinder nicht, um geliebt zu werden, sondern um sie ins Leben zu begleiten, um sie zu lebensstarken Persönlichkeiten zu erziehen. Unsere Kinder brauchen Orientierung und Grenzen; ansonsten nehmen wir ihnen die Möglichkeit, sich gesund zu entwickeln.

 

Lebenssinn nicht im Kind suchen

Die Zahl der Menschen, denen Gott nichts bedeutet und die keinen höheren Sinn in ihrem Leben sehen, hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Ein Mensch kann aber nicht leben ohne das Gebundensein an einen höheren Sinn. Finde ich keinen, so entsteht ein Vakuum. Jedes Vakuum aber will sich mit Neuem füllen. Viele Erwachsene scheinen ihr "Vakuum" mit ihrem Kind zu füllen, sie verschmelzen geradezu mit ihrem Kind. Sie machen das Glück ihres Kindes zu ihrem eigenen, beginnen für das Kind zu fühlen und zu denken. In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten: Viele Eltern reagieren inzwischen nicht mehr regulierend auf das, was ihr Kind tut, sondern suchen nur noch zu verstehen, warum es etwas tut. Die Folge davon ist: Sie halten das Verhalten ihres Kindes von vornherein für richtig und sind ständig bereit, es zu entschuldigen. Wenn etwa der Lehrer zu sagen wagt: "Ihr Kind ist im Unterricht unmotiviert und macht nicht mit ...", antwortet so manche Mutter: "Nein! Er langweilt sich nur, weil seine Interessen eben ganz woanders liegen ..." Eltern, die der "blinden" Verschmelzung mit ihrem Kind erliegen, sind in Gefahr, nicht klar zu sehen. Wenn es Probleme gibt, suchen sie die Schuld nur bei den andern, nie bei ihrem Kind oder in ihrem eigenen Erzieherverhalten.

Wer hätte gedacht, dass der Glaube an Gott uns Eltern sogar in diesem Bereich hilft: Wir brauchen unsere Kinder nicht zu unseren "Halbgöttern" zu machen, sondern dürfen sie im richtigen Licht sehen - als das, was sie sind: als die uns von IHM anvertrauten Kinder.

 

Mein Fazit

"Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden." Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war mir neu und anders bewusst als zuvor, dass wir Eltern zu unserer angemessenen Rolle schnellstens zurückfinden dürfen. Kinder - vor allem kleine Kinder - müssen wieder als Kinder gesehen und behandelt werden. Es geht nicht darum, dass wir autoritär sind - das wird in Deutschland immer schnell missverstanden. Es geht darum, dass wir ein liebevolles Gegenüber sind, an dem sich das Kind orientieren kann. Ich darf, ja ich muss von meinem Kind Gehorsam verlangen; ich darf und muss darauf bestehen, dass es meinem Wunsch, meiner Bitte - wenn nötig meinem Befehl - nachkommt. Ich brauche nicht alles bis ins Detail auszudiskutieren (was später dann, im Umgang mit Jugendlichen, wichtig ist). Ich darf jeden Tag neu fordern, dass das Kind den Tisch deckt, die Schuhe auszieht und so weiter. Als Eltern stehen wir von Natur aus über dem Kind. Wir sollten unsere Aufgabe als Vater oder Mutter (neu) annehmen und alles tun, damit die Psyche unserer Kinder sich in gesunder Weise bilden und heranreifen kann. Der durchaus wichtige partnerschaftliche Umgang kann dann mit zunehmendem Alter des Kindes eingeübt werden.

Mein Kind an die Hand nehmen ist meine Aufgabe, nicht mich von ihm führen zu lassen. Und du bist dabei, Maria, Mutter und Erzieherin? Gott sei Dank!

 

Claudia Brehm
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 4/2008
www.zeitschrift-begegnung.de

 

© 2024 Klaus Glas | Impressum | Datenschutzhinweise