Foto: Ägäisches Meer, Türkei © Sarah Glas

Wasser, in dem wir schwimmen

26.04.2012


Verbindliche, tragfähige Beziehungen sind die Grundlage für ein erfülltes Miteinander. Wie können wir sie aufbauen und pflegen?Wenn sich Ehepaare und Familien mit personalen Bindungen beschäftigen, dann ist das ungefähr so, wie wenn sich Delfine mit dem Meer beschäftigen. Personale Bindungen sind unser zentrales Thema. Sie sind der Lebensraum, in dem wir uns bewegen, die Luft, die wir atmen, das Wasser, in dem wir schwimmen.

 

Unser Leben ändert sich ständig

Die Rahmenbedingungen unseres Lebens ändern sich ständig, und die Veränderung wird immer schneller. Denken wir an den Einzug des Internets und des E-Mail-Verkehrs in nahezu jeden Privathaushalt. Denken wir an den Einzug des Mobiltelefons in nahe - zu jede Hand- oder Hosentasche. Oder an die Ausstattung unserer Autos mit Navigationsgeräten. Die Globalisierung der Gesellschaft mit ihren nachhaltigen Folgen für jeden von uns ist eine weitere Facette des beschleunigten Wandels in unserer Zeit. Man könnte noch viele weitere Lebensbereiche durchbuchstabieren. Das führt zu einer grundlegenden Unsicherheit und zu der Überzeugung: Was wir gestern gelernt haben, können wir morgen wahrscheinlich schon nicht mehr anwenden. Die angemessene Strategie für den modernen Menschen unter diesen Bedingungen heißt: Flexibilität, Mobilität, Ungebundenheit. Der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann spricht von einer „Relativierung aller sozialen Verbindlichkeiten“: Die „Widerrufbarkeit oder zeitliche Befristung persönlicher Verpflichtungen [werde] zur strategischen Maxime“ des modernen Menschen.

 

Deshalb einwurzeln

Genau in dieses Klima hinein zielt das Konzept einer konsequenten Bindungspädagogik. Sie reagiert auf die „allseitige Wurzellosigkeit und Nestentbundenheit des heutigen Menschen. Verneinung und Nichtbeachtung der menschlichen Bindungen machen in der Wurzel charakterlos, seelenlos und deswegen religionslos“ (Josef Kentenich, 1950). Das ist eine deutliche Absage an jede vergeistigte, individualistische Frömmigkeit, die vor lauter geistlicher Tiefe die Menschen um sich herum vergisst. Religiöse, das heißt gottgebundene Menschen, können wir überhaupt nur sein, wenn wir die Menschen um uns herum beachten, wahrnehmen, ernst nehmen und Bindungen, das heißt, verbindliche Beziehungen zu ihnen schaffen und pflegen.

 

Liebt einander ...

Wie geht das, wie bauen wir Beziehungen auf, und wie pflegen wir sie? Jesus selbst gibt uns im Johannesevangelium eine sehr einfache, aber tiefsinnige und umfassende Antwort: Liebt einander so, wie ich euch geliebt habe (vgl. Joh 13,34). Und zwei Kapitel weiter heißt es: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt.“ (vgl. Joh 15,9) In diesen beiden Sätzen haben wir die Grundlage des gesamten personalen Bindungsorganismus oder auch Liebesorganismus: Gott, der Vater, liebt seinen Sohn Jesus. Und Jesus leitet dieselbe Liebe, die der Vater auf ihn übertragen hat, an die Menschen weiter. Wie der Vater seinen Sohn Jesus liebt, so liebt Jesus die Menschen. Und jetzt geht es weiter. Wie Jesus die Menschen liebt, so sollen auch wir Menschen uns gegenseitig lieben. Wir haben in der Taufe und in der Firmung den Heiligen Geist empfangen, der ja nichts anderes ist als diese Liebe zwischen Vater und Sohn. Und in dieser Liebe sollen wir nun mit den Menschen um uns herum ein Netz knüpfen. Im Blick auf das Sakrament der Ehe wird das Ganze jetzt noch interessanter. Im Sakrament unserer Ehe ist Christus in besonderer Weise gegenwärtig. Das heißt, unsere Begegnung miteinander in der Ehe ist immer unmittelbar auch eine Begegnung mit Christus. In der Liebe des Partners erfahren wir unmittelbar die Liebe Christi. In diesen Prozess gehören verschiedene Teilaspekte, Lebensvorgänge, die gesunde Beziehungen wachsen und reifen lassen. Das soll uns Inspiration für die Gestaltung unserer ehelichen Liebe geben und gleichzeitig für die Gestaltung des gesamten Beziehungsnetzes um uns herum. Hierzu gehören verschiedene Vorgänge:

 

Ich lasse dich spüren, dass ich dich mag

Das kennen wir als Eheleute gut. Es genügt nicht, dass wir uns irgendwann einmal unsere Liebe gestanden haben und irgend - wann geheiratet haben. Liebe lebt von Zeichen. Liebe lebt von Aufmerksamkeiten, von Zärtlichkeiten und so weiter.

 

Ich sehe dich groß

Wir staunen über den anderen. Wir entdecken im Partner Fähigkeiten, die wir selbst nicht haben. Und wir freuen uns daran. Die Größe des anderen macht uns ehrfürchtig.

 

Ich glaube an dich

Wir waren vor zwei Wochen zur Erstkommunionfeier unserer Patenkinder in Hamburg eingeladen. Im Gottesdienst haben die Kinder an verschiedenen Stellen selbstgemachte Gebete vorgetragen. Dabei hat uns besonders der schlichte Satz eines Jungen bewegt, den dieser zur Danksagung vortrug: „Guter Gott, ich danke dir, dass du an mich glaubst.“ Welch eine Glaubensaussage dieses Kommunionkindes – was für eine Kraft geht von diesem Satz aus!

 

Ich halte zu dir

Die Menschen heute leiden unter ihren Schwächen. Im Berufsleben, in der Familie, im Haushalt, in der Pflege von Kontakten, bei der Ernährung, bei der Sorge um unsere sportliche Fitness – überall haben wir hohe Ansprüche an uns selbst. Und wir bleiben hinter unseren eigenen Ansprüchen zurück. „Burn out“ heißt eine verbreitete Krankheit unserer Zeit. Was heißt „burn out“? Ich schaffe es nicht mehr. Ich bin am Ende mit meiner Kraft. Und jetzt sagt mir jemand: „Ich halte zu dir!“ Und zwar nicht, weil du dieses und jenes leistest, weil du den Ansprüchen genügst, sondern einfach weil du es bist. Du kannst dich auf mich verlassen, ich halte zu dir.

 

Jetzt bist du dran

In diesem kurzen Satz kommt zum Ausdruck, welchen immensen Vorteil wir als gläubige Menschen bei der Gestaltung unserer Beziehungen haben. Für uns gibt es immer noch ein Mehr, einen Größeren. Wir stehen – gerade auch in unserer ehelichen Beziehung – nicht unter dem gigantischen Druck, füreinander immer perfekt sein zu müssen. Ich gehe ganz selbstverständlich da - von aus, dass der andere mich auch immer wieder einmal enttäuscht. Pater Kentenich ist überzeugt, dass diese Enttäuschungen vom lieben Gott absichtlich inszeniert sind. Denn Gott will, dass wir mit unserer Liebe nicht beim Gegenüber stehen bleiben. Der Strom unserer Liebe soll letztlich zu Gott und in Gott hinein münden. „Jetzt bist du dran“, das ist auch ein wichtiger Satz, wenn wir selbst an unsere Grenzen stoßen. Etwa in der Erziehung. Lieber Gott, wir haben die Zukunft unseres Kindes nicht in der Hand. Wir haben unseren Teil nach besten Kräften getan. Jetzt bist du dran.

 

Ich lebe, was ich sage

Eine Grundvoraussetzung dafür, dass gesunde Beziehungen überhaupt entstehen und Bindungen wachsen können, ist Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit. In der Ehe sprechen wir von ehelicher Reinheit. Wir sind echt in unserer Beziehung. Unsere Worte und unser Sein stimmen überein. Worte auch gegenüber unseren Kindern, die nicht von unserem Sein gedeckt sind, sind leere, wirkungslose Worte. Zu authentischen Menschen dagegen fühlt man sich hingezogen. Um sie herum können verlässliche und stabile Bindungen entstehen.

 

Ich will Dich lieben

Schauen wir noch einmal auf die eheliche Liebe als Lernort für die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen im All - gemeinen. Als Eheleute haben wir uns am Tag unserer Hochzeit versprochen: „Ich will dich lieben, achten und ehren.“ Zur Liebe gehört die Achtung oder Achtsamkeit und die Ehrfurcht. Die Liebe drängt zur Hingabe, will grenzenlose Nähe, möchte sich ganz an den anderen verschenken. Die Liebe geht in einer gesunden Beziehung aber immer einher mit Ehrfurcht. Liebe und Ehrfurcht gehören zusammen. Ehrfurcht hält aus, dass der Andere mir immer auch ein Fremder bleibt. Ehrfurcht erschrickt vor der Größe des Anderen. Ehrfurcht ist die Antwort auf die Würde, die dem anderen von Gott her zukommt. Ehrfurcht sorgt für ein gewisses gesundes Maß an Distanz zum anderen Menschen.

 

Und die Gegenbewegung, die Antwort auf die Ehrfurcht ist die Achtung, die Achtsamkeit. Sie nimmt den anderen in seiner Kleinheit, in seiner Verletzlichkeit und Schwäche wahr. Und sie respektiert den an deren, lässt ihn klein und schwach sein, ohne seine Schwäche irgendwie auszunutzen. „Ich will dich lieben, achten und ehren.“ – Ein Programm für das Leben in der Ehe. Eine brauchbare Orientierung aber auch für das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Erziehung. „Ich will dich lieben, achten und ehren“ – dieses Programm kann auch Maßstab für die Gestaltung unseres gesamten Bindungsorganismus sein, ja es bietet eine wertvolle Orientierung bei der Gestaltung aller Beziehungen zwischen Menschen.

 

Diana und Dr. Lukas Schreiber

Aus: unser weg, Schönstatt Familienmagazin 3/2010

www.unserweg.com


 

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