Auch ein Original... © K. Glas

Original ist genial - Von der Kraft der persönlichen Berufung

02.11.2013

 

 

 

Stellen Sie sich vor, Ihre kleine Tochter (Enkelin) kommt eines Mittags von der Schule heim und fragt: "Mami (Omi), hast du auch eine Berufung?" – Sie erfahren, dass es heute im Religionsunterricht um das Thema "Berufung" ging, und nun möchte die Kleine es genau wissen: "Hast du auch eine Berufung?"

 

Es lohnt sich, über diese Frage nachzudenken: Wie ist das bei mir? Was ist Berufung? Für die Bibel ist es der Ruf Gottes, der mir zeigt, wer ich bin. "Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir" (Jes 43,1) – so sagt Gott zu jedem Einzelnen.

Es ist eine schöne Erfahrung, in einer anonymen Masse, wo man sich ziemlich "verloren" fühlt, auf einmal mit Namen gerufen zu werden. Da ist jemand, der kennt mich! – Der Ruf Gottes geht viel tiefer. Er lässt uns erleben: Ich bin weder ein Zufallsprodukt noch ein Blindgänger. Ich habe etwas, was mich aus allen anderen Menschen heraushebt. Gott ist bereit, meinetwegen vieles in die Waagschale zu werfen: "Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder" (Jes 43,4).

Gegenwärtig gibt es rund 6810 Millionen – etwa 6,8 Milliarden – Menschen auf der Erde. In dieser gigantischen Zahl sind wir keine Nummern. Jeder Mensch ist "eine originelle Darstellung ... eines originellen Gottesgedankens, ist vom anderen verschieden, besitzt seine individuelle Eigenart", so sagt es Pater Kentenich. Und er betont: "Gott hat mich mit meinem Namen, mit meiner originellen Persönlichkeit gerufen." Jeder ist berufen, ein Unikat zu sein.

 

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lautet eine Internetadresse. Dahinter steht eine Initiative gegen die Fälschung von Produkten. "Original ist genial." Dieses Wort kann ein Motivationsschub sein: Jede von uns ist dort "genial" und herausragend, wo ihre persönliche Berufung liegt. Berufung ist mehr als ein Beruf.

Janne Haaland Matláry, Professorin für internationale Politik an der Universität Oslo, verheiratet und Mutter von vier Kindern, erzählt aus der Zeit, in der sie zur norwegischen Regierung gehörte. In dieser Phase, als sie den Eindruck hatte, "als gebe es gar nichts anderes mehr als Arbeit", sagte ihre kleine Tochter Sophie etwas vorwurfsvoll zu ihr: "Du musst eine echte Mutter sein!" Die Kleine fügte hinzu: "Du musst wie andere Mütter sein und mich selbst zu den Geburtstagspartys bringen!" Ein Freund der Familie sagte es grundsätzlicher: "Leg deine Priorität auf die Kinder und halte dich daran." Zunächst protestierte sie, aber mit der Zeit ging ihr auf, "dass das Muttersein für mich und die Kinder sehr viel wichtiger war als jede andere Tätigkeit, wie viel Leidenschaft ich auch immer in diese hineinstecken mochte".

 

Wo etwas für mich sehr viel wichtiger wird als alles andere, beginnt die persönliche Berufung zu wirken. Dadurch bekommt ein Lebensentwurf, den Millionen Frauen haben – in diesem Fall: Mutter sein –, etwas Einzigartiges: So wie ich ihn lebe, tut es keine zweite.

 

Die Berufung eines Menschen umfasst alles: seine Stärken und Schwächen, seine Lebensentscheidung, seine Krisen und seine Glückserfahrungen. Alles das ist gebündelt in dem "Namen", in der inneren Bestimmung, die uns persönlich von Gott gegeben ist. Pater Kentenich spricht vom "Persönlichen Ideal". Wann immer wir etwas erleben, hören, wahrnehmen, was diesem persönlichen Lebensideal nahe kommt, sind wir wie "elektrisiert". Wir sagen dann: Das hat mich sehr angesprochen. Oder: Ich bin tief beeindruckt. Oder: Das geht mir sehr nach ... Dies ist eine erste Spur, die persönliche Berufung zu entdecken.

 

 

Meine Berufung ist dort, wo ich "aufblühe"

Durch das, was mich tiefer gehend anspricht, komme ich in Fühlung mit dem Persönlichen Ideal als meinem Persönlichkeitsideal.

Es ist gut, immer wieder einmal innezuhalten und sich zu fragen: Worauf spreche ich an? Wodurch wird bei mir immer wieder eine unbestimmte Sehnsucht wach – durch ein Wort, das mir nachgeht, durch einen Menschen, der mich anzieht, durch einen Wunsch, den ich in mir trage?

Das Persönliche Ideal ist so etwas wie der "Glücksnerv" in uns. Wo dieser Nerv getroffen wird, leben wir auf und entfalten Kraft. Alles wird leichter und schöner. Manchmal ist es ein Hochgefühl des Glücks, sehr oft aber einfach eine innere Ruhe und Sicherheit, in der sich ankündigt: das ist mein Weg.

 

Wo wir in Fühlung kommen mit unserer persönlichen Berufung, hören wir auf, uns mit anderen zu vergleichen. Wir haben ja "Unseres" gefunden. "Es hat mir noch nie etwas ausgemacht, als 'Nur-Hausfrau' belächelt zu werden", sagt eine Frau Anfang 40, Mutter von vier Kindern. "Ich wollte für meine Kinder da sein und ich bin dankbar, dass ich mir diesen Luxus leisten kann. Vielen anderen Frauen, die sich das auch wünschen, ist es leider nicht möglich." In einer extrem kraftraubenden Phase des Familienlebens, als sie wochenlang kaum Zeit für sich hatte, bedauerten Freundinnen sie. Ihre Reaktion: "Ich tue das doch gern, das gehört dazu!"

Das Besondere am Persönlichen Ideal ist das Klima der Freiwilligkeit aus Liebe. "Liebe ist der wesentliche Urtrieb der menschlichen Natur!", so Pater Kentenich. "Je größer die Liebe, desto sicherer ist der ganze Mensch gewonnen." Das Leben aus der eigenen Berufung macht glücklich, weil die Liebe geweckt ist. Vieles wird dann leichter, sogar schwere Lebenserfahrungen. Darauf weist ein Wort von Frederik Bücher hin: "Deine Berufung ist dort, wo es dich zutiefst glücklich macht, der Not der Welt zu begegnen." Das ist ein zweiter Aspekt:

 

Meine Berufung ist dort, wo ich nötig bin

Das Persönliche Ideal ist auch ein Aufgabenideal. "Da steht meine Aufgabe, die mir Gott gestellt hat, im Vordergrund" (J. Kentenich). Jeder Mensch hat eine einmalige Lebensaufgabe in dieser Welt zu lösen. Wir erkennen sie daran, dass wir bei bestimmten Anforderungen und Nöten starke Kräfte entfalten und außergewöhnlich belastbar sind. Und das ganz unabhängig davon, ob unser Einsatz von der Umgebung beachtet wird oder nicht. Gerade bei Frauen und Müttern ist dieses unspektakuläre Heldentum oft erlebbar.

 

Der mittlerweile verstorbene Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Walter Bärsch, erzählte einmal, er sei als Kind wegen schlechter Leistungen in die "Hilfsschule" versetzt worden. Von seiner Mutter, einer einfachen Frau, sagte er: "Sie wusste, wer ich war, sie hielt zu mir ... Immer wieder tröstete sie mich mit den Worten: 'Das wird noch alles gut gehen.' So wurde sie in meiner ersten Lebenskrise mit ihrer Liebe zu mir die entscheidende Helferin ... Sie selbst hat später nie über diese Zeit mit mir gesprochen. Nur als ich ihr berichten konnte, dass ich Professor an der Universität Hamburg geworden war, sprach sie davon, schmunzelnd und rundherum glücklich."

 

Diese Frau war sich wohl ihrer Lebensaufgabe an ihrem Sohn bewusst. Denn nach ihrem Tod fand Bärsch auf der Rückseite eines Bildes, das sie ihm vermacht hatte, ihre ungelenk geschriebenen Worte: "Ich war 1950 lebensmüde ... Dir, mein lieber Walter, wollte ich das nicht antun; das hätte dir einen großen Kummer gebracht." – Das Bewusstsein, für ihren Sohn verantwortlich zu sein, gab ihr die Kraft weiterzuleben.

Die Kraft einer persönlichen Lebensaufgabe! – Ein drittes:

 

Meine Berufung ist dort, wo Christus aus mir strahlt

Ein Biograph schreibt über den heiligen Franziskus, dass "Christi Antlitz selbst aus dem Seinen hervorblickt". Das gilt nicht nur für so große Heilige wie Franz von Assisi: Jeder Christ ist berufen, Christus mit seinem Gesicht, mit seiner ganzen Persönlichkeit zu spiegeln. Jeder soll sozusagen eine authentische "Originalausgabe" des Evangeliums, eine "lebendige Bibel" sein.

Pater Kentenich hat gern auf die Episode verwiesen, als in Paris einige Intellektuelle über den Pfarrer von Ars spöttelten. Doch als einer von ihnen dort gewesen war, kam er sehr besinnlich zurück und sagte zu den anderen: "Seid still, ich habe Gott in einem Menschen gesehen!"

 

Das ist der Kern jeder christlichen Berufung: Gott in dieser Welt erfahrbar machen mit der ganzen Person, entsprechend dem "Namen", mit dem er uns ruft. Dieses Zeugnis bewirkt mehr als viele Worte: Durch uns hindurch geschieht Gottesbegegnung, die immer auch Gottessegnung ist.

 

Wer könnte uns auf diesem Weg der Berufung besser helfen als Maria, die Jesus uns zur Mutter gab? Eine gute Mutter hilft jedem Kind individuell, die Originalität seiner Persönlichkeit auszuprägen. Maria tut das in hervorragender Weise. Pater Kentenich sagt von ihr: "Die Gottesmutter sagt ein ganz persönliches Ja zu mir ... Sie sagt ihr Ja zu meinem Vornamen und ihr Ja zu meinem Familiennamen. Sie kennt mich sehr gut, mich als Person; ich bin keine Nummer für sie." Halten wir uns an diese Mutter, denn sie hilft uns, den entscheidenden Ruf unseres Lebens zu hören: "Ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir" (Jes 43,1).

 

Aus: BEGEGNUNG – Zeitschrift für Frauen aus Schönstatt – 1/2010

www.zeitschrift-begegnung.de


 

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