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Im Selbst klingt meine Lebensmelodie

18.05.2019


„Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm‘ nur viel zu selten dazu“, tönt es aus meinen Lautsprecherboxen. Der Musiker Jan Delay hat einen Spruch des Schriftstellers Ödön von Horváth aufgegriffen und ein Lied dazu geschrieben. Es handelt von einem Jugendlichen, der sich im Alltag anders gibt, als er ist, und der sich beklagt, dass die anderen sein eigentliches Ich nicht erkennen. Die schmerzlich erlebte Spannung zwischen dem „präsentierten Selbst“ und dem „wahren Selbst“ wird im Refrain des Liedes deutlich. 

Unser freies Spiel 
So wie ein Musiker einen neuen Song bei der GEMA anmeldet und dort hinterlegt, legt Gott in die Seele eines Kindes ein originelles Lied. Tonart (Moll oder Dur) und Dynamik (Lautstärke) dieses Lebensliedes sind bereits voreingestellt. Die Psychologie bestätigt dieses Schöpfungsprinzip in ihrer Sprache: Affekt (positive oder negative Grundstimmung) und Aktivierung (introvertiert oder extravertiert) sind zu einem Großteil genetisch festgelegt. Allerdings gibt es keine feste Partitur! Improvisation und Mut zum freien Spiel sind von Gott ausdrücklich gewünscht. Davon war der als Pädagoge tätige Pater Josef Kentenich überzeugt. Nach seiner Vorstellung sollte jeder das ihm geschenkte Lebenslied ganz persönlich und emotional interpretieren. Er empfahl ausdrücklich, sich am bestmöglichen Arrangement („Persönliches Ideal“) zu orientieren und dieses auch gegen äußere Widerstände auf den Markt zu bringen. 

In der psychologischen Wissenschaft wird das Lebenslied „Selbst“ oder „Identität“ genannt. Die Begriffe werden synonym verwendet. Psychologen in den USA bevorzugen den Begriff Selbst, der mehr das Individuum an sich in den Blick nimmt. In der europäischen Tradition wird der Mensch mehr als Mitglied einer Gruppe wahrgenommen. Man spricht in diesem Zusammenhang von sozialer Identität. Der Begriff des Selbst beinhaltet beschreibende (zum Beispiel: „Ich wohne in Hessen“) und bewertende (zum Beispiel: „Ich kann gut Gitarre spielen“) Aspekte. Der Begriff Identität geht von der Vorstellung aus, es gäbe – bei allen äußeren und inneren Veränderungen einer Person – ein Kern-Selbst, das über die Jahre relativ stabil ist. 

Unsere Komposition 
Nach Kentenich versucht jede Person, ihr Lebenslied melodiös klingen zu lassen und es gegenüber anderen Melodien abzuheben. Er spricht von „innerer Geschlossenheit und äußerer Abgeschlossenheit“. Das Selbst entwickelt sich seinen Beobachtungen nach langsam; aus einem schönen Song wird allmählich ein neuer, in sich stimmiger Song.

Beim Komponieren und Texten erfolgt vieles gleichzeitig, aber nicht in gleichem Tempo. So könnte etwa die Melodie schneller fertig sein als der Songtext. Die moderne Psychologie konnte mittlerweile diese Gesetzmäßigkeiten der Identitätsentwicklung bestätigen. Außerdem konnte man zeigen, dass unser – weitgehend unbewusst arbeitendes – Selbst in der Lage ist, auch widersprüchliche Persönlichkeitsanteile zu integrieren und zu einem sinnvollen Ganzen zu formen. Mit einiger Gelassenheit kann man sich deshalb sagen: „So, wie ich bin, ist es in Ordnung!“ Diese Selbst-Vergewisserung ist vor allem in Zeiten des Wandels nötig.

In einer besonders sensiblen Phase der Adoleszenz, zwischen dem 15. - 25. Lebensjahr, ist der Mensch in der Lage, sein Selbst bewusst und reflektiert zu überarbeiten. Dabei kommen viele Jugendliche leicht aus dem Takt. Das Gehirn ist eine Großbaustelle. Die Umbaumaßnahmen im präfrontalen Kortex, in dem Verstand und Wille verortet sind, dauern länger als die Arbeiten in tieferen Hirnschichten. Das zeigt sich auch im Verhalten: heranwachsende Kinder geben manchmal, zum Leidwesen ihrer Umgebung, nur schräge Töne von sich.

Unser Lebenslied
Wer einfach nur nachsingt, was ihm vorgesetzt wird, wird keine starke Persönlichkeit. Der freiheitsliebende Lehrer Josef Kentenich wusste das. Er stellte die Selbst-Gestaltung in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Arbeit: „Wir wollen lernen, uns selbst zu erziehen!“, rief er den Jungen bei seiner Antrittsrede als Geistlicher Begleiter zu. Er erwartete von ihnen nur das, was er auch selber vorlebte. Statt alles laufen zu lassen, ermunterte er die Pennäler, sich ihre Identität in kleinen Schritten zu er arbeiten: „Gehen lernt man durch gehen, lieben durch lieben. So müssen wir auch lernen, uns selbst zu erziehen durch ständige Übung.“

Alle Anstrengungen galten nicht dem selbstverliebten Ego; geglückte persönliche Identität ist ja immer zugleich soziale Identität. So versuchte Pater Kentenich, seine Mitarbeiter für eine große Sache zu begeistern. Unter dem Schutze Mariens entwickelten sie Treue zu sich selber und zur gemeinsamen Lieblingsidee. Zwei Jahre nach Beginn des Persönlichkeits-Projektes brach der 1. Weltkrieg aus. Kentenichs Schüler mussten an die Front. Da zeigte sich, dass der Lehrer mit seinen Überzeugungen richtig lag: Wer von seinen Schülern eine „erarbeitete Identität“ hatte, entwickelte in den Extrem-Belastungen des Krieges weniger Hilflosigkeit und seltener psychische Störungen. Einige wuchsen über sich hinaus und setzen Zeichen der Solidarität inmitten der Schlachtfelder.

Ihr Lebenslied ist nach ihrem Tod nicht verklungen. Es hallt in den Herzen derer nach, die sich von diesen großen Menschen berühren lassen.     


 

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