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Gute Bindung, gutes Leben

05.01.2025

 

Mitte der 1970er Jahre. Auf den „Brutkästen“ einer Frühgeborenen-Station steht das Verbotsschild: „Berühren verboten!“ Denn es wird von einem hohen Infektionsrisiko für die Neugeborenen ausgegangen. Von dem Berührungsverbot betroffen ist auch Tiffany Field. Sie darf ihre Tochter weder umarmen noch liebkosen. Die Studentin ist entrüstet. Sie überredet Mitarbeiter der Station dazu, ihr Baby massieren zu lassen. Zum Erstaunen des Klinikpersonals lässt sich das Frühchen fortan leichter beruhigen als andere Kinder auf der Station. In den folgenden Jahren entwickelt Tiffany Field, mittlerweile Entwicklungspsychologin, einen Inkubator, der es Eltern und Pflegekräften erlaubt, Frühchen eine sanfte Massage zu geben, wobei der Infektionsschutz gewährleistet ist. In einer Studie konnte sie nachweisen, dass regelmäßig massierte Frühgeborene schneller an Gewicht zunehmen und wacher und aktiver sind. Zudem konnten diese fast eine Woche früher aus der Klinik entlassen werden als Babys, die nicht behandelt wurden.

 

Bedürfnis nach Bindung

Ein Kind kommt vollständig, aber unvollkommen auf die Welt. Es braucht die beruhigende Stimme und die Halt gebenden Hände der Mutter. Mütter unterstützen ihre Kinder, Schmerzen auszuhalten sowie Angst und Ärger zu regulieren. Idealerweise geht eine Mutter liebevoll auf die Äußerungen ihres Babys ein. Sie reagiert prompt, d.h. innerhalb einer Sekunde! Durch unzählige Begegnungen fühlen sich Mutter und Kind miteinander verbunden. „Bindung ist das imaginäre Bandzwischen zwei Personen, das in den Gefühlen verankert ist und sie über Raum und Zeit hinweg miteinander verbindet“, sagt die Pionierin der Bindungsforschung Mary Ainsworth.

 

Die kanadische Psychologin erforschte über Jahrzehnte die Mutter-Kind-Beziehung; zunächst in England, später in Uganda und dann in den USA. Sie entwickelte eine Methode, die als Fremde Situation bekannt ist. Dabei werden Kleinkinder zwischen 12 und 18 Monaten einer Stress-Situation ausgesetzt. Während das Baby im Beisein seiner Mutter in einem Wartezimmer spielt, kommt unerwartet eine fremde Frau hinzu. Während die Fremde sich mit dem Kind beschäftigt, verlässt die Mutter - ohne ein Wort zu sagen - den Raum. Das irritierte Kind weint und krabbelt in Richtung Tür. Nach wenigen Minuten kommt die Mutter zurück und beruhigt ihr Kleines. Der Stress wird stufenweise erhöht. Wenig später ist das Kind drei Minuten allein in der unvertrauten Umgebung. Die 20-minütige Testsituation wird mit einer Videokamera aufgezeichnet. Die Qualität der Mutter-Kind-Bindung bewerteten Ainsworth und ihr Team, indem sie die Reaktionen des Kindes bei der Wiedervereinigung mit der Mutter unter die Lupe nahmen. Wenn das gestresste Baby sicher gebunden ist, krabbelt es auf die Mutter zu und lässt sich trösten. Sobald es sich beruhigt hat, nimmt es gelassen sein Spiel wieder auf.

 

Schutzfaktor sichere Bindung

Bei einem Drittel der Kinder findet man Formen eines unsicheren Bindungsstils. Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung wirken auf den ersten Blick gelassen. Sie weinen nicht, wenn die Mutter den Untersuchungsraum verlässt. Und sie nehmen keine Notiz von ihr, wenn sie wiederkommt. Hinter der coolen Fassade brodelt es: Der Pulsschlag ist erhöht und im Speichel findet man eine stark erhöhte Konzentration des Stresshormons Cortisol. Das Kind verhält sich intuitiv folgerichtig. Wenn es wiederholt die Erfahrung macht, dass die Mutter zwar da, aber nicht präsent ist, geht es innerlich auf Distanz. Die Angst vor Ablehnung und Zurückweisung kann auf diese Weise im Zaum gehalten werden, zumindest kurzfristig.

Bei Kindern, die körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erfahren haben, stellt man oft einen desorganisierten Bindungsstil fest. Traumatische Erlebnisse bewirken bleibende Schäden im Gehirn, denn bestimmte Hirnregionen, die für die Regulation von Emotionen und Stress zuständig sind, werden fehlerhaft verdrahtet. Werden die Heranwachsenden mit Problemen konfrontiert, fällt es ihnen schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren und sozial kompetent zu reagieren. Ihr neuronales Stressverarbeitungs-System springt bei Belastungen schneller an und reagiert intensiver als bei sicher gebundenen Kindern. Wie ein junger Erwachsener seinem künftigen Ehepartner begegnet, wie er mit Stress oder Enttäuschungen umgeht, was er bei Kopf- und Rückenschmerzen macht und nicht macht - all das wird durch das in der Kindheit entstandene Bindungsmuster mitbestimmt. „Frühe Erfahrungen legen den Grund für die neuronalen und hormonellen Reaktionen des Körpers auf Belastungen - und zwar eine Leben lang“, betont der kanadische Neurobiologe Michael Meaney.


Wie internationale Forschungen zeigen, ist die in den ersten drei Lebensjahren gewachsene liebevolle Bindung die beste Lebensversicherung. Sicher an die Eltern gebundene Kinder haben im Vergleich zu unsicher gebundenen mehr Selbstvertrauen und ein größeres Selbstwertgefühl. Sie zeigen bei Belastungen in Familie und Beruf eine größere Resilienz (Robustheit), und ihre Partnerschaften und Freundschaften sind stabiler und zufriedenstellender. Zum Glück weisen weltweit zwei Drittel der Kinder ein sicheres Bindungsmuster auf. „Bei sicher gebundenen Kindern kommt es also auf der Grundlage der frühen positiven Befriedigung ihres Bindungsbedürfnisses dazu, dass in der Folge auch ihre anderen Grundbedürfnisse gut befriedigt werden. Das Resultat ist eine insgesamt positive Entwicklung und eine gute psychische Gesundheit“, resümiert der Psychologe und Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe.

 

Auf die Eltern kommt es an

Eine warmherzige Mutter ist für ihre Kinder ein sicherer Hafen, der Schutz und Sicherheit bietet. Ein kompetenter Vater ist ein Kapitän, der seine Kids mitnimmt auf Entdeckungsfahrt. Typischerweise fühlen sich Mütter für verbale Interaktionen, Väter eher für Initiativen zuständig. Ein Beispiel: Beim Betrachten der großen, bunten Seiten eines Bilderbuches macht es die Mutter ihrem Kind leicht. Sie sagt, was sie sieht und wiederholt viel, damit's behalten wird: „Da, in dem Fenster, ist die Oma. Sie lacht, siehst Du?“ „Das habe ich Dir schon 'mal gezeigt: das ist ein Fahrrad, ein Faaahrrad.“ Nicht so der Vater. Der stellt typischerweise W-Fragen, bei dem sich das Kleinkind anstrengen muss: „Wer fährt auf dem Roller?“, „Wieso fliegt die Gießkanne um?“, „Wo ist das Eichhörnchen?“

 

Während Mütter auf diese Weise v.a. das passive Sprachverständnis ihres Kindes fördern, fordern Väter den Nachwuchs heraus, die Dinge selber beim Namen zu nennen. Väter befeuern das aktive Sprechen des Kindes. Müttern bringen ihren Kindern Alltagswissen bei. Wie schnüre ich mir die Schuhe? Wie benutze ich das Schulbuch? Väter sind gut für Überraschungen und witzige Unterhaltungen. Toll, dass Papa das Klettergerüst im Garten aufgebaut hat. Es fühlt sich aufregend an, wenn mich mein Vater an Hand und Fuß packt und wie ein Flugzeug umherwirbelt. „Gerade in dieser Andersartigkeit sind wichtige Impulse für die Entwicklung des Kindes verborgen. Sie tragen zur Sozialisation gleichermaßen bei“, schreibt die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert („Auf die Väter kommt es an“, Ullstein). Väter und Mütter nehmen gleichwertige, jedoch unterschiedliche Aufgaben wahr. Wie die rechte und die linke Hand verhalten sich Frau und Mann komplementär. Sie ergänzen einander.

 

Vorschriften nur soviel als nötig

Zu Beginn der 1950er Jahre machte der Pädagoge und Priester Josef Kentenich auf „zerrüttete seelischen Bindungen“ in den Familien aufmerksam. Er empfahl Rat suchenden Eltern, die Erziehung ernst zu nehmen und die Kinder mit Gott in Verbindung zu bringen. Sein Grundsatz lautete: Innere Verbundenheit soviel als möglich, äußere Vorschriften nur soviel als nötig. Für Kentenich war achtsamer Respekt vor der Persönlichkeit des Kindes die wichtigste Voraussetzung einer liebevollen Bindung. Er plädierte für ein lebenslanges Lernen im Sinne freiwilliger Selbst-Erziehung. Was er in einem anderen Zusammenhang in einfachen Versen formulierte, kann für engagierte Eltern eine bedenkenswerte Anregung sein: „Dein Sein und Leben wirkt auf sie (die Kinder) zurück, bestimmt ihr Missgeschick und mehr ihr Glück!“

 

Klaus Glas


 

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