05.01.2025
Kritik annehmen und angemessen äußern können
Nach längerem Überlegen entscheidet sich die schüchterne Corinna M. (37 J.) für eine neue Frisur für den Frühling. Beim Kaffeetrinken auf der häuslichen Terrasse machen ihr vier Freundinnen Komplimente. Eine weitere Bekannte, die hinzukommt, begrüßt sie: „O je, welcher Kopfgärtner hat Dich denn zugerichtet?“ Corinna ist sichtlich geknickt. Anderntags geht sie zur Friseurin und lässt Änderungen vornehmen. Zuhause angekommen ist sie alles andere als zufrieden.
Paul S. (60 J. ) ist Schulleiter einer Beruflichen Schule. Gegenüber einem Abteilungsleiter, den er seit der Studienzeit kennt, äußert er in scharfem Ton: „Du bist eine Enttäuschung für mich. Ich wünschte, Du würdest an eine andere Schule wechseln.“ Der kritisierte Pädagoge, der im Kollegium für sein gewissenhaftes Engagement bekannt ist, reagiert gekränkt und lässt sich zwei Wochen lang krankschreiben.
Konflikte sind normal
Konflikte kommen häufig vor. Sie sind normal, weil Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen haben und diese befriedigen bzw. durchsetzen wollen. Zwischenmenschliche Probleme entwickeln sich zumeist wegen der Art und Weise, wie Konflikte ausgetragen werden. Augenfällig ist das bei Paaren: Zufriedene und unzufriedene Paare geraten über dieselben Themen in Streit. Aber glückliche Paare gehen anders damit um: sie liegen sich im Unterschied zu Eheleuten, die sich auseinandergelebt haben, weniger häufig, weniger heftig und weniger lang in den Haaren. Auf eine negative Äußerung reagieren sie eher gelassen. Wenn es dennoch 'mal laut hergeht, versöhnen sie sich schnell wieder. Intuitiv orientieren sie sich an der Lebensweisheit des Apostels Paulus, der mahnte: „Lasst euch durch den Zorn nicht zur Sünde hinreißen! Die Sonne soll über eurem Zorn nicht untergehen.“ [Eph 4, 26]
Soziale Fertigkeiten sind hilfreich
Psychologen unterscheiden vier Grundbedürfnisse, die jedem Menschen innewohnen: das Bedürfnis nach Bindung, nach Kontrolle, nach Lustgewinn und nach Selbstwert-Erhöhung. Wenn es gelingt, Beziehungen so zu gestalten, das zentrale psychische Bedürfnisse befriedigt werden, erfreut man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit einer guten körperlichen und seelischen Gesundheit. Soziale Fertigkeiten, wie Kritik gelassen auszuhalten und Wünsche angemessen zu äußern, sind für ein gedeihliches Miteinander unerlässlich. „Eine wichtige Fähigkeit ist, Angriffe auszuhalten und auch einzustecken und nicht bei jeder harten Formulierung, die mich attackiert und konfrontiert, sogleich einzuschnappen oder in totale Gekränktheit zu verfallen. Die Streitbarkeit gehört unbedingt zur kommunikativen Grundausstattung“, betont der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun. Eine hohe soziale Kompetenz hat diejenige Person, die ihre Beziehungen so gestaltet, dass sie viele positive Erfahrungen im Sinne der seelischen Grundbedürfnisse macht.
Typische soziale Situationen, in denen man sich bewähren sollte, sind Kontakt aufnehmen, Recht durchsetzen und Bindungsbeziehungen gestalten. Im ersten Fall geht es darum, auf eine fremde Person, die man sympathisch findet, zuzugehen und ein Gespräch zu beginnen. Etwas anderes ist es, sein Recht einzufordern, etwa wenn man ein defektes Produkt umtauschen will. In engen und dauerhaften Beziehungen (Ehe und Familie, Gruppen, Geistliche Gemeinschaften) geht es nicht darum, sich um jeden Preis durchzusetzen, sondern Opferbereitschaft zu signalisieren und zu zeigen.
Sicher, schüchtern, aggressiv?
Jeder zehnte Bundesbürger hat eine schwierige Persönlichkeit. Wenn man privat oder am Arbeitsplatz mit solchen Menschen zu tun hat, erlebt man unvermittelt ein Störgefühl: er oder sie formuliert eigene Bedürfnisse nicht adäquat, er oder sie ist übertrieben misstrauisch, er oder sie reagiert empfindlich auf eine humorvolle Bemerkung, er oder sie zeigt einen plötzlichen Stimmungs- oder Verhaltenswechsel, ohne dass man überhaupt etwas gesagt hätte. Psychotherapeuten diagnostizieren eine Persönlichkeitsstörung, wenn der Interaktionsstil eines Menschen exzentrisch, launisch oder zwanghaft ist und bei ihm oder ihr ein erheblicher Leidensdruck im familiären oder beruflichen Kontext besteht. In der kognitiven Verhaltenstherapie können die Betroffenen klären, wie sie ihr Leben gelingender als bisher gestalten möchten. Es werden Charakterstärken identifiziert, die sie schrittweise im sozialen Miteinander einsetzen können. Kognitiv trainiert man wiederholt einen Perspektivwechsel, der die Grundlage dafür bildet, sich in andere einzufühlen.
Die Psychologen Rüdiger Hinsch und Ulrich Pfingsten unterscheiden zwischen selbstbewusstem, unsicherem und aggressiven Verhalten. Ein selbstsicherer Mensch spricht laut und deutlich. Seine Formulierungen sind klar und deutlich: er sagt, was er will und begründet das kurz. Seine Gefühle drückt er direkt aus. Er sagt, dass er sich ärgert und unterstreicht das mit entsprechender Mimik und Gestik. Bei all dem möchte er nicht feindselig-dominant erscheinen, sondern dem anderen ein freundlicher und verlässlicher Gesprächspartner sein.
Eine unsichere Person spricht dagegen leise und stockend. Sie formuliert ihr Anliegen vage und unklar, sodass der Zuhörer nicht weiß, was sie eigentlich will. Weitschweifig werden überflüssige Erklärungen abgegeben. Eigene Bedürfnisse werden hintangestellt oder schlichtweg nicht wahrgenommen. Blickkontakt wird aus Angst vor Ablehnung vermieden. Die Wirkung des schüchternen Verhaltens ist bekannt: der Zuhörer fühlt genervt oder zuckt mitleidig mit den Schultern.
Ein aggressiver Zeitgenosse brüllt seine Forderung heraus - ohne Rücksicht auf Verluste. Er beleidigt und droht mit negativen Konsequenzen. Er ist von sich hundertprozentig überzeugt: „Ich bin der Größte!“ Was Wunder, dass man sich als Gesprächspartner eingeschüchtert und minderwertig vorkommt und den Kontakt künftig vermeiden wird, - es sei denn es handelt sich um einen Vorgesetzten.
Neues Verhalten üben, üben, üben
Die Anwendung hilfreicher Sprecher-und Zuhörer-Regeln, das Mitteilen angenehmer Gefühle wie Dankbarkeit und Zuneigung, die Äußerung unangenehmer Gefühle wie Ärger oder Angst, aber auch das Beenden können einer schwierigen Beziehung: All das sind soziale Fertigkeiten, die man lernen kann. Da Angst unbewusst zur Vermeidung motiviert, muss man unsichere Personen explizit auf ihr Vermeidungsverhalten hinweisen. Als Alternative wird die schrittweise Konfrontation mit der eigenen Angst vor Bewertung vorgestellt. Da Schüchterne von negativen Gedanken geplagt sind („Wenn ich Kritik äußere, werden die anderen mich ablehnen“), werden hilfreiche Selbstinstruktionen erarbeitet („Ich trage mein Anliegen freundlich und deutlich vor. Wenn jemand nicht zustimmt, heißt das nicht, dass er mich als Person “).
Zur Änderung von Vermeidungsverhalten sind wiederholte Erfahrungen notwendig, die nicht mit den befürchteten Erwartungen übereinstimmen. Dazu werden in einem Selbstsicherheits-Seminar bzw. in der Verhaltenstherapie Rollenspiele durchgeführt. Im Alltag müssen sozial ängstliche Menschen zusätzlich Verhaltensübungen durchführen. Die Überwindung des inneren Konflikts - soll ich es wagen oder lass' ich es sein? - erreicht man nicht durch das Lesen eines Ratgeber-Buches, sondern durch die willentliche Konfrontation mit bislang gemiedenen sozialen Situationen,
„Implizites Lernen geschieht bottom up duch reale Erfahrungen. Erst durch die mehrfache reale Erfahrung, in der Situation zu sein und keine Angst zu haben, wird im impliziten Funktionsmodus eine neues neuronales Erregungsmuster gebahnt“, sagt der Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe.
Angst kann im Gehirn nicht gelöscht, sondern nur gehemmt werden. Die immerwährende Praxis der Selbst-Motivierung durch die Anwendung sozialer Fertigkeiten trägt dazu bei, dass dies gelingt. Als Christen dürfen wir darauf vertrauen, dass wir dabei nie allein sind. „Denn der Geist, den Gott uns geschenkt hat, lässt uns nicht verzagen. Vielmehr gibt er uns Kraft, Liebe und Besonnenheit.“ [2 Tim 1, 7]
Klaus Glas
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