Foto: Christoph Armbrust

Mein Geliebter kommt

21.03.2017


Je mehr es gelingt, die eigene persönliche Geschichte aufzuarbeiten und „Ich“ sagen zu lernen, umso erfüllter lässt sich Intimität erleben. Gedanken von Pater Michael Hagan über die ganzheitliche Liebe.

Horch! Mein Geliebter! Sieh da, er kommt. Er springt über die Berge, hüpft über die Hügel. Der Gazelle gleicht mein Geliebter, dem jungen Hirsch. Ja, draußen steht er an der Wand unsres Hauses; er blickt durch die Fenster, späht durch die Gitter. Der Geliebte spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch! Denn vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. Auf der Flur erscheinen die Blumen; die Zeit zum Singen ist da. Die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land … Süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht.“ Hohelied 2, 8-14

Wie schön sind diese Zeilen aus dem Alten Testament. Dieses biblische Bild umschreibt die Liebe zwischen Mann und Frau. Diese Liebe ist nicht nur ein Zugeständnis an das Triebleben, sondern Verwirklichung des eigenen Selbst, des eigenen Seins, Erfüllung der höchsten Menschenwürde. Pater Kentenich drückt dies einmal markant so aus: „Das vollkommenste Abbild des drei­faltigen Gottes sind an sich die Eheleute, und zwar im Augenblicke des ehelichen Aktes.“ Voraussetzung dafür ist, dass die körperliche Vereinigung Ausdruck einer tiefen seelischen Verbundenheit ist. Mit der sexuellen Liebe will die erotische, die geisti­ge und die übernatürliche Liebe verbunden sein. Eine solche Liebe muss wachsen und ausreifen, von der selbstsüchtigen Liebe hin zu einer selbstlosen Liebe und Treue.

Wie kann man Gott erleben?

In der alten Tradition der Theologie gibt es auf die Frage, wie wir Gott erleben können, verschiedene Antworten, unter anderem: Im ehelichen Akt. Ein Ehepaar, das einan­der liebt, erlebt Gott im ehelichen Akt. Wo kann ich also Christus erleben? In der Ehe!

Wenn wir zum Beispiel nach Frankfurt gehen und die Menschen nach ihrer Meinung über das Sexualverständnis der Kirche befragten, würden die meisten sagen: Die Katholische Kirche hat ein sehr negatives Verständnis von Sexualität. Das stimmt aber nicht! Die Sexualität in der Ehe ist der Weg zur ganzheitlichen Liebe, der Weg als Ehepartner heil und heilig zu werden. Mann und Frau sind im Moment des ehe­lichen Aktes ein Ausdruck von Intimität.

Was geschieht psychologisch? Zwei Personen – ein Mann und eine Frau – lieben einander. Je mehr jede Person ihre eigene Identität entwickelt hat, umso reifer und erfüllter kann sie diese Intimität erleben. Manche Paare heiraten sehr jung – im Teenageralter – und merken dann irgend­wann: „Ich habe einen Mann, eine Frau, ich habe Kinder, aber ich möchte jung sein.“ Wie schwierig kann das sein und wie komplex. Da wurde manches nicht zur Reife gebracht, nicht verarbeitet. Wir bringen unsere Lebensgeschichte, unsere Persönlichkeit mit in die Ehe. Die Schwierigkeiten, die wir mit 40, 50, 60 Jahren haben, liegen normalerweise nicht in der Intimität, sondern in unserer Identität. Wichtig ist es, zunächst die eigene Identität auszuprägen, „Ich“ sagen zu lernen. Pater Kentenich spricht von einem „Ich“ und einem „Du“, das zum „Wir“ wird. In die­sem Wir können wir Gott erleben.

Eine schreckliche Leere

Ich habe viel mit Studenten gearbeitet. Öfter wurde mir erzählt: Ein Mann schläft mit einer Frau und morgens fragt er sie: „Wie heißt du?“ Es gibt dann keine Be-ziehung zwischen dem, was physisch passiert und was geistig ist. Am Ende gibt es eine Leere, die schrecklich ist. Wenn Pater Kentenich davon spricht, ganzheitlich zu lieben, dann geht es genau darum: Das, was wir physisch vollziehen, auch emotional, geistig, geist­lich zu erleben. Das, was wir sexuell erle­ben, sollte ein Ausdruck unserer Haltung sein. Wir wissen, für die Frauen ist das ein­facher, aber für die Männer oft nicht! Wir sind keine Heiligen, wir sind ganz normale Männer. Der Mann hat physisch eine viel stärkere Erlebnisfähigkeit als die Frau. Um mit der Zeit die Intimität, das Einswerden, auf einer inneren Ebene zu erleben, kön­nen wir uns fragen: „Kann ich eigentlich meiner Frau meine Geheimnisse mitteilen? Kennt meine Frau mein Leben? Kennt meine Frau meine Geschichte?“ Und umgekehrt?

The wild man becomes a wise man

Ein Buch des Franziskaners Richard Rohr, USA, hat den Titel: „The wild man be-comes a wise man“ – „Der wilde Mann wird ein weiser Mann“. Wir sind wild! Und wie werden wir weise? Das geschieht sehr langsam. Das ist menschlich. Aber es geht darum, unsere Identität zu entwickeln, wahrzunehmen, dass wir Menschen sind mit Schwächen und Sünden.

Was geschieht, wenn Sie merken: Ich liebe einen anderen Mann? Ich liebe eine andere Frau? Das kann passieren. Plötzlich merke ich, ich bin mit meinem Partner zusam­men, aber innerlich bin ich ganz woanders. Da sind wir herausgefordert: Wie erleben wir tatsächlich unsere Sexualität und wie kommen wir (wieder neu) zu einer Reife, zu einer menschlichen Reife, damit wir die Tiefe unserer Intimität erleben können? Diese Fragen sind nicht einfach zu bespre­chen, aber ich möchte Sie ermutigen, dar­über ins Gespräch zu kommen: Wie erlebe ich unsere Intimität? Wie erlebe ich tatsächlich unsere Ehe?

Ein ehrlicher Austausch kann helfen, dass wieder neu wahr wird, was die Braut im Hohelied der Liebe beschreibt:

Horch! Mein Geliebter! … Vorbei ist der Winter, verrauscht der Regen. … Süß ist deine Stimme, lieblich dein Gesicht.“

Hohelied 2, 8-14

In: „unser weg“ - Schönstatt Familienmagazin 2/2013

www.unserweg.com


 

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