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Kulturelles Schubladendenken

01.10.2022

Klaus Glas

Vor einigen Jahren wurde Jungs im Kindergarten verboten, an Fastnacht im Indianer-Kostüm zu erscheinen. Die Kindergartenleitung hatte den Eltern zuvor mitgeteilt, man wolle keine Stereotypen bedienen. Dieser Tage erst stoppte der Ravensburger Verlag die Auslieferung zweier Kinderbücher, die zu dem Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ hätten erscheinen sollen. Wenn Winnetou wirklich gelebt hätte, würde er sich von den Ewigen Jagdgründen aus wundern über die aktuelle Debatte.

Jürgen Wehnert, Theologe und Literaturwissenschaftler, ist Mitglied im Kuratorium der Karl-May-Stiftung. Er wehrt sich vehement gegen die verbalen Angriffe auf Karl May. Sein Leben lang habe der Schriftsteller der allseits bekannten Abenteuer-Romane antirassistische Ideale vertreten: „Rassismus ist schlimm, aber jemanden, der entgegen dem Geist seiner Zeit für die Verständigung der Völker eintrat, als Rassisten hinzustellen, ist abscheulich“, sagte Wehnert gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Kürzlich musste die Schweizer Band „Lauwarm“ ein Konzert abbrechen. Der Grund: einige Zuschauer:innen fühlten sich „unwohl“, weil die Herren in Rasta-Locken auftraten und Reggae spielten. Dazu seien sie als weiße Musiker nicht berechtigt, das sei eine Form „kultureller Aneignung“. Darunter versteht das Cambridge Dictionary das „Verwenden von Elementen einer Kultur, die nicht die eigene ist, vor allem ohne dabei zu zeigen, dass man diese Kultur verstanden hat und respektiert.“

Das neue Schubladendenken praktizieren vor allem „Progressive“, die traditionell eher für Gleichheit und Toleranz eintreten. Soll es künftig nicht mehr möglich sein, das bekannte Spiritual „Go Down Moses“ in einem Gottesdienst zu singen, nur weil das Lied einst von Sklaven in Virginia gesungen wurde? Dürfte eigentlich Elvis, der - würde er noch leben - 87 Jahre alt wäre, noch seinen Song „In the Ghetto“ zum Besten geben? Der „King of Rock ’n’ Roll“ stammt aus einfachen Verhältnissen, ist aber nicht in einem Ghetto aufgewachsen.

Dieser Tage sah ich auf Youtube das NPR Music Tiny Desk Concert von „Coldplay“.
Der Frontmann der Band, Chris Martin, musiziert hier mit einem weißen Gitarristen - und neun schwarzen Musiker:innen, die den Background-Chor bilden. Es werden u.a. Spiritual ähnliche Songs intoniert und Rhythm and Blues dargeboten. Beides Musikstile, die ursprünglich von Afroamerikanern entwickelt wurden. Die Leute auf der beengten Bühne haben erkennbar Spaß bei ihrem kleinen-feinen Auftritt. Kulturelle Aneignung? Hier pfeifen - sorry! - singen die schwarzen und weißen Musiker drauf. Überzeugen Sie sich selbst.
Youtube: Coldplay


 

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