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"Macht den Raum des Zeltes weit!"

09.07.2023

Wie der Dialog mit Andersdenkenden gelingt

Petra (58 J.) denkt mit Beklemmung zurück an die Zeit der Corona-Pandemie. Denn sie gehörte zu jener Gruppierung, die sich gegen die Corona-Impfung entschieden hatte. Sie war bei manchen „Montagsspaziergängen“ dabei und sprach sich gegen die Impfpflicht aus. Sie reagierte empört, als von der „Pandemie der Ungeimpften“ die Rede war. Die Bio-Lehrerin diskutierte viel mit ihren Lehrerkolleg:innen. Sie war am Boden zerstört, als ausgerechnet ein befreundeter Kollege sie kühl abwies: „Mit Leuten, die Verschwörungstheorien verbreiten, rede ich nicht.“

Zunehmende Polarisierung?
Vor der Corona-Krise war uns Polarisierung vor allem bekannt aus Medienberichten über die US-Politik. Diese wird faktisch von einem Zweiparteien-System bestimmt. Der ruppige Umgangsstil zwischen Republikanern und Demokraten erreichte unter Präsident Donald Trump ihren traurigen Höhepunkt. Gesellschaftliche Polarisierung ist auch in der Bundesrepublik erkennbar. Auf der einen Seite steht etwa Sahra Wagenknecht. Sie ist überzeugt, dass man bereits im März 2022 einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg hätte erreichen können; die USA und Großbritannien hätten das Vorhaben verhindert. Die Linken-Politikerin und die Publizistin Alice Schwarzer riefen in einem „Manifest für den Frieden“ dazu auf, Kompromisse auf beiden Seiten zu machen „mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern.“ Auf der anderen Seite wurde dieser Friedensappell von dem Politologen Herfried Münkler als „gewissenlos“ bezeichnet. Die Initiatorinnen würden mit ihrem „kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft“ betreiben.

Eine spürbare Polarisierung gäbe es auch in der Katholischen Kirche, sagt der Fuldaer Bischof Michael Gerber in seinem Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023. Der Seelsorger-Bischof, dem es nicht nur wichtig ist, wie wir leben, sondern wie wir miteinander leben, ruft zu einer „neuen Konflikt-Kultur“ auf. Diese beginne damit, dass wir „Polarisierungen und die zugrundeliegenden Ursachen ernst nehmen.“ Der Umgang mit Spannungen aufgrund gegensätzlicher Überzeugungen dürfe nicht „zur Radikalisierung von Positionen und zur Abschottung gegenüber Andersdenkenden“ führen [Video zum Hirtenwort: https://fastenzeit.bistum-fulda.de/fastenzeit/index.php.]

Wie wir ticken
Man kann mit Recht fragen, warum es Polarisierung gibt und wie es dazu kommt. Dabei lohnt sich ein Blick in die Sozialpsychologie. Ab den 1970er Jahren führte Henri Tafjel (sprich: Tafschel) eine Reihe von Forschungsarbeiten durch. Tajfel geriet als französischer Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er überlebte nur, weil er seine Herkunft - er entstammte einer polnisch-jüdischen Familie - verbergen konnte. Nach dem Krieg zog er mit seiner Familie nach Großbritannien. Dort baute er eine einflussreiche Forschungsgruppe auf.

In einem Experiment zeigte Tajfel Schülern Fotos mit Gemälden von Paul Klee und Wassily Kandinsky. Hernach teilte er die Kids einer Klee- bzw. Kandinsky-Gruppe zu. Das geschah per Zufall, unabhängig von den tatsächlichen Vorlieben der Schüler. Als die Jungs im Anschluss einen Geldbetrag an (ihnen unbekannte) Personen der Gruppen verteilen sollten, achteten diese darauf, den Unterschied zur anderen Gruppe zu maximieren. Ein Junge in der Klee-Gruppe handelte so, als ob er sagen wollte: Jungs aus meiner Gruppe steht mehr Geld zu als den anderen Typen, die für Kandinsky schwärmen. Allein der Glaube, er gehöre einer Gruppe an, die aber nur in seinem Kopf existierte, führte zur Bevorzugung der eigenen Leute.
Die „Theorie der sozialen Identität“ geht davon aus, dass die Einzelpersönlichkeit von einem Streben nach positivem Selbstwert getrieben wird. Steigt mein Selbstwert, merke ich das mit meinem Selbstwertgefühl: ich empfinde Freude, Stolz und Dankbarkeit. Zugleich habe ich als soziales Wesen das seelische Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit, das mich motiviert, verbunden zu leben. Wie alle anderen, bin ich - wie ich das gern nenne - ein „Bindividuum“ (Begriff aus Bindung und Individuum). Fühle ich mich einer Gruppe oder einer organisierten Gemeinschaft zugehörig, neige ich automatisch zur Eigengruppenbevorzugung - ich kann nicht anders. Schon bei der bloßen Erwähnung meiner Gruppe fühle ich mich innerlich aufgewertet. Der Vorgang hinter diesem Phänomen: die Gruppe wurde im Laufe der Zeit beiläufig in mein Selbst integriert. Sie gehört zu mir wie mein Name an der Tür. Die Gruppe bzw. Gemeinschaft ist Teil meines Selbst geworden: Wir sind Papst! Wir sind Weltmeister!
Wie bei einer Kinder-Schaukelwippe geht die Begünstigung der eigenen Gruppe aber zugleich mit einer Abwertung der gegnerischen Gruppe einher: Ein Fan von Borussia Dortmund findet seine Mannschaft großartig und den FC Bayern München größenwahnsinnig.

Umgang mit anderen: Weise werden
Unsere menschliche Natur macht es sich gern einfach, auch im mentalen Bereich. Das führt dazu, dass wir intuitiv nach Informationen suchen, die unsere Grundüberzeugungen bestätigen. Der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) ist unserem Gehirn einprogrammiert. Wir sollten diesen kognitiven Fehler salient machen und uns sagen: ja, dieser Fehler unterläuft auch mir. Und deswegen bemühe ich mich in der Begegnung mit anderen, Unsicherheit, Unwissenheit und Ungewissheit auszuhalten. Ich weiß, dass ich nicht alles weiß. Diese wünschenswerte Eigenschaft heißt Ambiguitätstoleranz.

Um diese zu fördern ist es hilfreich, mit dem Herzen zu sehen. Michael Linden und Kai Baumann haben Weisheitskompetenzen beschrieben, die dabei helfen können. Die Psychologen empfehlen bei Konflikten, einen Perspektivwechsel (kognitiv) vorzunehmen und Empathie (emotional) zu entwickeln. Es ist hilfreich, einen Streitpunkt von der Warte des anderen aus zu betrachten. Um mich in den anders Denkenden einzufühlen, muss ich dessen Gefühl innerlich nachvollziehen und benennen können: Wie geht es ihm oder ihr mit dem Konflikt? Empfindet er Angst oder Traurigkeit, Ärger oder Verbitterung? Das hilft mir zu verstehen, warum der andere so und nicht anders reagiert. Denn jede Emotion ist mit Verhaltensimpulsen verbunden. So „will“ Angst vermeiden und Ärger angreifen. Wer traurig ist, will sich am liebsten ins schützende Schneckenhaus zurückziehen.

Manche frommen Christen sind sehr überzeugt von ihren Werten; Diese erscheinen ihnen nützlich und vor allem - wahr! In diesem Zusammenhang ist Selbstrelativierung geboten. Eine Anekdote zu Papst Johannes XXIII. veranschaulicht diese Haltung. Einmal sei ihm ein Engel im Traum erschienen und habe gesagt: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Das habe ihm, dem damals 78-Jährigen, geholfen, die schwere Bürde des Petrus-Amtes zu tragen.

Umgang mit Medien: Negativitäts-Diät
Der Trend zu negativen Nachrichten nimmt seit Jahren zu, sagt Hans Mathias Kepplinger. Der Kommunikationswissenschaftler hat mit seinem Team festgestellt, dass die Tagesschau 1989 in 41 Prozent ihrer Meldungen über negative Dinge berichtete; 2014 waren es 59 Prozent. Der Konsum von Negativ-Meldungen macht manches mit uns. So überschätzen wir in einer negativen Stimmungslage mögliche Risiken und Gefahren, über die wir Kenntnis erhalten.
Roy Baumeister ist überzeugt, dass Polarisierung vor allem in der „politischen Klasse“ betrieben wird: unter Politiker:innen und Journalist:innen, Aktivist:innen und Lobbyist:innen. Die Bevölkerung selbst sei Befragungen zufolge viel moderater. Der Sozialpsychologe warnt vor einer „falschen Polarisierung“, die weniger durch soziale Medien als durch seriöse Leitmedien geschürt werde. Während Baumeister beim Medienkonsum allgemein für eine „negativitätsarme Diät“ eintritt, empfiehlt Kepplinger „die Konzentration auf wenige Medien und wenige substanzielle Beiträge.“
In Bezug auf eine erstrebenswerte „neue Konfliktkultur“ greift Bischof Michael Gerber das biblische Bild vom geweiteten Zelt auf, das ein Ausdruck der Hoffnung sein könne: „Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen! Mach deine Zeltseile lang und deine Zeltpflöcke fest.“ (Jes 54, 2)>

Klaus Glas


 

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