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Eine Krise bewältigen

11.05.2020

Interview von Herrn Dr. German Neundorfer, Lektor des Herder Verlags,  mit Mechthild von Scheurl-Defersdorf

Unsere Neigung, alles schwarz zu sehen und zu jammern, ist sehr ausgeprägt. Die aktuelle Situation rund um die COVID-19-Pandemie stellt uns beruflich und privat vor neue Herausforderungen, wie unsere Gesellschaft sie noch nie erlebt hat. Wie gelingt es uns in diesen Zeiten, zwischen berechtigter Sorge und übertriebenen Befürchtungen zu unterscheiden?

Die Pandemie fordert unser aller Aufmerksamkeit. Sie wirft uns aus den eingefahrenen Bahnen. Diese Entwicklung bringt Hilflosigkeit und Ängste mit sich. In solchen Momenten der Sorge und Verunsicherung ist es wichtig, ganz bewusst ein lautes JA zum Leben zu sagen und dankbar zu sein für das, was wir haben: unsere Fähigkeiten und Erfolge.

Betrachten wir die Krise mit einem kreativen Blick. Sie ist Chance und Entwicklung. Sie lädt einen jeden und eine jede ein, in der eigenen Entwicklung einen Schritt nach vorne zu machen. Mit diesem inneren Blick sehen wir nicht nur die aktuelle Bedrohung, sondern sind bereit, auch die Chancen zu erkennen, die sich mit der Krise auftun.

Es ist wichtig, dem Virus mit dem gebotenen Respekt zu begegnen und die Vorsichtsmaßnahmen zu beachten. Damit schützen wir uns selbst und andere. Gleichzeitig ist es wichtig, sich vor Angst und Panik zu bewahren. Sie nehmen uns die Kraft, die wir brauchen, um gesund zu bleiben und aus der Krise zu lernen.


Was kann uns in diesen bedrohlichen Zeiten noch Sicherheit bieten?

Der Schlüssel dazu liegt bei uns selbst. Wir können, ja wir müssen diese Sicherheit selbst schaffen. Vieles ist anders, als es sonst war. Die jährlich wiederkehrenden Feste und Veranstaltungen werden abgesagt und fallen als Orientierung gebende Eckpfeiler des Jahres weg. Ferien und Schulzeiten verschwimmen: Die Kinder sind zuhause, obwohl sie Schule haben und nicht Ferien. Die Eltern sind daheim, obwohl kein Urlaub ist, und arbeiten dort. Alles scheint auf den Kopf gestellt. Im Augenblick gehen im Außen Strukturen verloren.

Da hilft Ordnung, die wir uns selbst in unserem Leben schaffen. Das Haus und die Wohnung, in der wir uns nun fast die ganze Zeit aufhalten, bieten dafür viele Möglichkeiten. Wir können Dinge aufräumen und aussortieren, Möbel reparieren, Dateien im Computer und die Garage aufräumen oder den Garten pflegen. Dies gilt auch für die eigenen Gedanken – auch sie können wir ordnen und in Ordnung bringen. Wer auf diese Weise bei sich aufräumt, ist am Ende selbst aufgeräumt.


In Krisenzeiten hoffen wir häufig auf die Hilfe von außen. Doch welche Kraftquellen liegen in uns selbst verborgen?

Wir alle haben viel mehr Kraft, als dies den allermeisten Menschen bewusst ist. Wir müssen uns erst einmal trauen, diese Kraft zu erkennen und dann verantwortungsvoll zu nutzen. Die Energie folgt der Aufmerksamkeit. Da, wo wir unsere Aufmerksamkeit hinlenken, werden wir ernten. So ist es eine Frage der Selbstbeherrschung und der Klugheit, sich die eigenen Gedanken bewusst zu machen und sie dann in die gewünschte Richtung zu lenken.

Die Kraft der Gedanken ist die eine Kraftquelle. Es braucht noch eine zweite, um die erste zur vollen Kraft zu erwecken: Es sind unsere Gefühle. Es ist wichtig, dass wir freundliche, wohlwollende Gefühle hegen. Dazu gehören Gefühle der Dankbarkeit, des Wohlwollens und der Freude. Diese Gefühle kommen als Grundhaltung nicht von allein. Sie bedürfen der andauernden Pflege und werden dabei immer kraftvoller.

Was wir mit einer solchen Grundhaltung machen, wird uns gelingen, und es wird Früchte tragen. Diese beiden Kraftquellen vereint tragen uns durch Krisenzeiten.


Social Distancing ist das Gebot der Stunde. Welche Bedeutung hat Kommunikation in Zeiten, in denen wir zunehmend isoliert leben müssen?

Überall in Läden und an Spazierwegen fordern Hinweise die Bürgerinnen und Bürger auf, 1,5 bis 2 Meter Abstand zu halten, um Ansteckung zu vermeiden. Dafür gibt es den Namen Social Distancing. Doch geht es dabei nur um ein physisches Abstandhalten, um ein Physical Distancing. Der Begriff „Social Distancing“ ist daher irreführend.

Statt mehr sozialer Distanz erlebe ich im Gegenteil mehr Nähe und Fürsorge, mehr Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftssinn als je zuvor. In meinem Ortsteil hängt an einem Baum ein Din A-4-Blatt. Darauf steht in großen Buchstaben: „Liebe Nachbarschaft!“ Da bietet eine Studentin ihr unbekannten Nachbarn und Nachbarinnen an, für sie einkaufen zu gehen, mit dem Zusatz, dass sie das mit Freude machen wird. Darunter hat sie mehrfach ihre Telefonnummer geschrieben. Das ist neu!

Die erzwungene Isolation lässt Menschen in einer Weise zusammenrücken, die Hoffnung aufkommen lässt. Wir brauchen dieses Gemeinschaftsgefühl, um gemeinsam kollektive Aufgaben friedvoll zu lösen.


Distanz auf der einen Seite, Nähe auf der anderen. Zuhause müssen wir nun enger zusammenrücken. Die Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen, werden immer geringer. Worauf müssen wir hier nun besonders achten?

Die Sprache spielt wie überall im Zusammenleben eine grundlegende Rolle. Es gibt eine Sprache, mit der das Zusammenleben leicht ist, und es gibt eine Sprache, die zu Missverständnissen und Streit führt. Der Unterschied zwischen beiden ist die Wortwahl und die Art, wie jemand seine Sätze bildet.

Es sind oft nur kleine Wörter, die scheinbar keine Bedeutung haben, die den Gesprächspartner ärgern – und keiner weiß, warum er so gereizt reagiert hat. Dann schaukelt sich die Stimmung schnell hoch. Zu diesen Wörtern gehört etwa das „aber“: „Ich habe dir aber gesagt, dass ich noch eine Stunde Ruhe brauche.“ Das klingt wie ein Vorwurf, auch wenn es nur ein Hinweis sein soll. Und schon kann die Stimmung kippen. Das ließe sich vermeiden.

Worauf sollen wir bei dem situationsbedingten engen räumlichen Zusammenleben besonders achten? Es ist die Sprache! Es lohnt sich, sie weiter zu entwickeln, auch als ganze Familie. Die eigene Sprache noch einmal neu lernen – das ist ein faszinierendes Projekt!


Der Titel Ihres Buches lautet „Ein lautes Ja zum Leben sagen!“ Wie kann uns das im Moment gelingen?

Gerade jetzt ist es ein Gebot der Stunde, ganz bewusst ein lautes JA zum Leben zu sagen und dankbar zu sein für das, was wir haben.

Die letzten Tage und Wochen haben uns gelehrt, das Leben neu zu sehen. Manches, was vorher wichtig und unentbehrlich schien, war auf einmal nebensächlich. Und das, was wir bis dahin als selbstverständlich angesehen haben, wurde Geschenk. Das Leben als solches ist bereits ein Geschenk! Und es ist gleichzeitig ein Auftrag.

Wir alle haben eine Lebensaufgabe. Jeder Mensch hat dafür die richtigen Talente mit auf den Weg bekommen. Sie weisen uns den Weg, wenn es um das Finden der eigenen Aufgabe geht. Talente erkennen Sie daran, dass Ihnen etwas Freude macht.

Die Tage der Isolation geben uns Gelegenheit, uns hierzu Gedanken zu machen und uns mit der Familie oder mit Freunden auszutauschen. Und mit genau diesen Talenten kann sich jede Frau und jeder Mann und jedes Kind zur Gemeinschaft beitragen – in der Familie, der Nachbarschaft, in der Schule und im Betrieb.


Dem Jammern und Schwarzmalen setzen Sie ein Leben in Zufriedenheit entgegen. Was ist das Geheimnis eines zufriedenen Lebens?

Zufriedenheit muss von innen kommen. Es braucht die Bereitschaft dazu. Niemand kann einen anderen Menschen zufrieden machen. Doch unsere eigene Zufriedenheit erleichtert es anderen, sich auch auf diese Grundhaltung einzulassen.

Zur Sprache von unzufriedenen Menschen gehört ein häufiger Gebrauch von Verneinungen. Die Wörter „nicht“ und „kein“ gehören zu ihrem Grundwortschatz: Sie können derzeit keine Freunde besuchen, sie wollen sich auch nicht anstecken und krank werden. Sie gebrauchen selbst dann Verneinungen, wenn sie etwas Schönes sagen wollen, wie z. B.: „Das Essen schmeckt nicht schlecht!“

Eine von Verneinungen geprägte Sprache lenkt den inneren Blick auf den Mangel und führt zum Jammern. Eine bejahende Sprache führt dagegen aus der Ablehnung heraus. Sobald wir annehmen, was ist, können wir die Möglichkeiten erkennen. Dann können wir mit den Herausforderungen angemessen umgehen. Eine bejahende Sprache ermöglicht einen Perspektivwechsel – und den brauchen wir in diesen Zeiten.


Worüber haben Sie sich zuletzt gefreut?

Das war eine Blutpflaume. Sie steht vor meinem Fenster und ist über und über voll von rosa Blüten und rötlichen, jungen Blättern. Sie ist wunderschön. Bei dem Blick auf sie freue ich mich! Im Grunde freue ich mich fast den ganzen Tag! Es gibt immer etwas, woran ich Freude habe.

Link zum Buch: Ein lautes JA zum Leben sagen

 


 

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