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Machen Städte wirklich krank?

09.07.2023

Wie Stadtstress die seelische Gesundheit beeinflusst

Vor einigen Jahren reisten meine Frau und ich Urlaub nach New York. Auf dem Hinflug schwärmte ein vielreisender Landsmann von einem Jazzclub in Harlem; er flöge eigens zu einem Konzert in die Millionenmetropole. Unser Interesse war geweckt. Die Musikveranstaltung war zwar ausgebucht, aber wir wollten uns die Kultstätte einmal bei Tage anschauen und fuhren mit der U-Bahn in den legendären Stadtbezirk nördlich des Central Parks. Die urbane Umgebung wirkte an diesem Wolken verhangenen Tag düster. Als Weißer fühlte ich mich unvermittelt als Außenseiter und empfand Angst, weil ich nur schwarzen Menschen begegnete. Gehörte Harlem nicht zu jenen Gegenden, wo man sich besser nicht aufhalten sollte? Eine größere Gruppe Kindergartenkinder mit ihren Erzieherinnen kam über einen breiten Zebrastreifen auf unsere Straßenseite. Guckten die nicht allesamt feindselig zu uns rüber? Erstmals im Leben hatte ich Schiss vor Kindern. Richtig erleichtert war ich, als wir in das weite Grün des Central Parks eintauchten: Endlich in Sicherheit!

Gefühlte Sicherheit
Bis in die 1980er Jahre hinein war Harlem eine „No-go-Area“, eine Gegend, wo man als Tourist besser nicht hingehen sollte. Seitdem hat sich viel getan. Der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani folgte während seiner Amtszeit der Broken-Wings-Theorie. Diese geht von einem Zusammenhang zwischen dem Verfall eines Stadtbezirkes und der Kriminalität vor Ort aus. Ein einziges eingeworfenes Fenster in einem leer stehenden Gebäude - so die These - könne zu Vandalismus führen: Zerstörung erzeuge Zerstörung. Mit ihrer Nulltoleranz-Strategie konnten Giuliano und der örtliche Polizeichef tatsächlich einen deutlichen Rückgang der Kriminalität erreichen. Zwischenzeitlich ist New York zu einer der sichersten Metropolen in den USA avanciert; nach einer Analyse von 7000 Gemeinden liegt die „Stadt, die niemals schläft“, auf Rang drei.

Während der Corona-Pandemie ist die Zahl der Gewaltdelikte in New York allerdings gestiegen. Besonders in U-Bahn-Stationen haben Raubüberfälle und Schießereien zugenommen. Nach einem Bericht der Tagesschau (ARD, 17.06.2022) fühlen sich viele im Big Apple nicht mehr sicher und belegen in Scharen Selbstverteidigungskurse. Neun von 10 Teilnehmenden sind Frauen. Sie sind von der Angst geplagt, überfallen und ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden. Studien zufolge nimmt die Angst vor Kriminalität mit der Größe der Stadt linear zu. In vielen Kommunen wurde deshalb daran gearbeitet, den öffentlichen Raum sicherer zu machen. Es gibt Frauenparkplätze in Parkhäusern, Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln und in manchen Großstädten ein Nachttaxi für Frauen.

Einige Experten bezweifeln, ob diese Maßnahmen wirklich zu mehr Sicherheit führen. Sie geben aber zu, dass die subjektive Sicherheit erhöht werden kann. Die Angst vor einem Übergriff, die mich in Harlem beschlich, steht jedoch in keinem Zusammenhang mit der objektiv messbaren Gefahr, die man an der Kriminalitätsstatistik ablesen kann. Zumindest nicht in Deutschland. „Angstorte sind keine Tatorte, und Tatorte sind keine Angstorte“, betont die Psychologin Antje Flade, die viele Jahre am Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt geforscht hat.

Stadtstress kann krank machen
Forscher fanden heraus, dass die Schizophrenie bei Personen, die in einer Stadt aufwachsen, dreimal so häufig vorkommt wie bei Leuten, die auf dem Land groß werden. „Die Gleichzeitigkeit von sozialer Dichte und Einsamkeitserfahrungen in den Städten kann sich zu krank machendem sozialem Stress summieren“, schreibt der Psychiater Mazda Adlin in seinem Buch „Stress and the City“. Wer als Kind oder Jugendlicher mit den Eltern aus einer dörflichen Umgebung in die Stadt zieht, hat ein erhöhtes Risiko, im Laufe seines Lebens an einer Psychose zu erkranken. Schätzungen zufolge gehen 30 Prozent des Risikos, an einer Schizophrenie zu erkranken, auf den Risikofaktor Stadtstress zurück. Neben Psychosen, die typischerweise mit Halluzinationen, Realitätsverlust und Wahnvorstellungen einhergehen, findet man weitere psychische Erkrankungen gehäuft bei Stadtbewohnern. Angststörungen und Depressionen kommen 40 Prozent häufiger vor als bei Dorfbewohnern.

Stadtstress hinterlässt dauerhaft Spuren im Gehirn. Das neuronale Stressverarbeitungs-System im Kopf kann in frühen Phasen der Entwicklung durch Stressoren gestört werden - mit bleibenden Folgen. Wer als Städter ständig sozialem Stress ausgesetzt ist - durch Vergleichsprozesse mit konkurrierenden Kameraden oder Mobbing - hat weniger Rezeptoren im Gehirn, an denen Stresshormone, wie das Cortisol, andocken können. Werden Stadt-Kids im späteren Leben mit Problemen konfrontiert, fällt es ihnen schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren und sozial angemessen zu reagieren. Denn ihr Stressverarbeitungs-System, das während einer sensiblen Phase in der Kindheit empfindsam gestört wurde, springt bei Belastungen im Erwachsenenalter schneller an und reagiert stärker als das der Landbewohner. Das neuronale Modul der Stadtbewohner reagiert wie eine zu fein eingestellte Alarmanlage und löst vorschnell Fehlalarme aus, die einen beunruhigen.

Kultur vergleichende Studien kommen zu dem Ergebnis, dass dieser Zusammenhang vor allem für individualistische Länder gilt, etwa die USA, Großbritannien oder Deutschland. Kollektivistische Nationen, wie Japan, Taiwan und Brasilien, weisen eine andere Gesellschafts- und Sozialstruktur auf. Quelle der persönlichen Identität ist in jenen Ländern die Wir-Gruppe. Das Lebensgefühl der Verbundenheit bietet vermutlich mehr Schutz vor krankmachendem Stadtstress.

Soll man Menschen empfehlen, ins Umland der Städte zu ziehen, weil sie dort seelisch gesünder leben? So einfach ist es nicht. Denn weltweit nehmen sich ausgerechnet Leute auf dem Land häufiger das Leben. Die Suizidrate unter heranwachsenden Dorfbewohnern ist doppelt so hoch wie in der Stadt! Eine wichtige Ursache liegt in der schlechteren Versorgung der Landbevölkerung mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Diensten. Es gibt kaum Psychiater und Psychotherapeutinnen, die ihre Praxen in Dörfern und Kleinstädten haben.

Natur in der Stadt
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs bei der New Yorker Bevölkerung der Wunsch, ihrer Stadt ein großes Stück Natur als Naherholungsgebiet einzupflanzen. Bis heute zählt der Central Park zu den größten Parkanlagen weltweit. Mit 349 Hektar ist der Stadtpark größer als das Fürstentum Monaco. Besucher aus aller Welt können in dem Park der Superlative nicht über sieben Brücken, sondern über 60 gehen. In der „grünen Lunge von NY“ gibt es zudem mehrere große Seen. Der größte, das Central Park Reservoir, ist als natürliche Filmkulisse vielen aus Hollywood-Filmen bekannt.

Wer als Stadtbewohner regelmäßig das Stadtgrün (Stadtwald, Parks) und das Stadtblau (Seen, Flüsse) aufsucht, tut etwas für seine seelisch-körperliche Gesundheit. Man hat festgestellt, dass Grünflächen in einem Stadtgebiet mit einer geringeren Häufigkeit von Angststörungen und Depressionen einhergehen. Schönheit und Stille der Natur haben einen positiven Einfluss auf unser soziales Organ, das Gehirn. „Der Aufenthalt in Naturräumen ist mit Stressabbau und einer gesünderen Regulierung der täglichen Cortisol-Ausschüttungen verbunden“, sagt die Stressforscherin und Psychologin Elissa Epel.

Für Bürgerinnen und Bürger von Städten lohnt es sich, wenn Naturerfahrungsräume geschaffen und gestaltet werden. Das Wohl der Bewohner sollte Bürgermeistern und Stadtplanern zuvörderst am Herzen liegen. Vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren schrieb der Prophet Jeremia an Landsleute, die sich in babylonischer Gefangenschaft befanden. Er empfahl ihnen, sie sollten das Beste aus der misslichen Lage in Babel machen: „Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl.“ [Jer 29, 7]

Klaus Glas


 

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