03.01.2024
Das Leben sinnvoll gestalten
Thomas M. (* Name geändert) hat eine attraktive und erfolgreiche Frau, fünf musikalische Kinder und genug Geld, dass er nicht mehr arbeiten müsste. Über Jahre ist der engagierte Christ in der Kirchengemeinde aktiv. Als Leiter eines Chores erfreut er die Herzen vieler Menschen. Zu seinem runden Geburtstag lädt er 100 Freunde ein, die ihn in bestimmten Lebensabschnitten begleitet haben. Aus nah und fern kommen die Gäste herbei. Es ist ein wunderbares Fest. Vier Wochen später sehen sich alle wieder. Diesmal treffen sich fast tausend Menschen. Viele weinen. Man steht am offenen Grab von Thomas M. Der hatte sich plötzlich und unerwartet das Leben genommen.
Leben in Fülle?
Hat Thomas M. ein Leben in Fülle (sensu Jesus) gespürt? Hat er ein gutes Leben (sensu Aristoteles) geführt? Geht es bei einem gelingenden Leben um das eigene Wohlbefinden, ein langjähriges Engagement für's Gemeinwohl oder um beides? Hat das Leben einen Sinn? Wenn ja, wird dieser persönlich konstruiert oder ist er von Gott (für mich) geplant?
In dem Rock-Song „Ganz anders“ (Udo Lindenberg und Jan Delay) beginnt der Refrain mit der Zeile „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm' nur viel zu selten dazu.“ Die Sentenz, die das Lebensgefühl junger Menschen widerspiegelt, wurde schon 1926 von dem Schriftsteller Ödön von Horváth formuliert. Die Sehnsucht nach einem authentischen Leben kommt darin ebenso zum Ausdruck wie die traurig machende Erfahrung des Noch-nicht.
Was ein gelingendes Leben ausmacht, darüber haben Philosophen und Vertreter der Weltreligionen seit 2000 Jahren nachgedacht. Während die Gelehrten Konzepte der Ethik und moralische Katechismen entwickelten, betonen Ratgeber-Taschenbücher oft die Leichtigkeit des Seins, die man mit vermeintlich mit wenigen Kniffen erreichen könne.
Die Psychologie beschreibt deskriptiv (statt bewertend), wie zufriedene Menschen denken, fühlen und handeln. Es gibt eine Fülle empirischer Daten darüber, wie der Mensch als bio-psycho-soziale Einheit funktioniert, und was ihn im Innersten zusammenhält
Gute Bindung - gesundes Leben
Kein Mensch ist eine Insel (John Donne). Eine gute Bindung zwischen Eltern und Kindern ist die beste Lebensversicherung, die wir kennen. Eine Mutter, die sich liebevoll um ihre Kleinen kümmert, ist wie ein sicherer Hafen, der Sicherheit bietet. Und ein engagierter Vater ist wie ein Kapitän, der seine Kinder mitnimmt auf Entdeckungsfahrt. Väter sind risikofreudiger als Mütter; sie lassen den Kindern mehr Freiheiten, wenn diese eigene Erfahrungen machen wollen. Das ist wichtig, denn jedes Kind muss die Erfahrung machen, dass es etwas selbst gestalten oder verändern kann (Selbstwirksamkeit). Typischerweise sind Mütter eher für die sozialen Interaktionen, Väter für motorische Initiativen zuständig. Dieses geschlechtstypische Verhalten ist biologisch mitbedingt und nicht – wie in „Gender Studies“ behauptet – ausschließlich sozial konstruiert (Doris Bischof-Köhler).
Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit bleibt ein Leben lang aktiviert. Unser soziale Organ, das Gehirn, ist von seiner Verarbeitungskapazität auf eine Gruppe von 150 Individuen ausgelegt. Wir brauchen für unser Wohlergehen offenbar wenige, aber treue Seelen um uns. Familienangehörige und Freunde haben dabei einen erheblichen Einfluss auf das Körper-Konto. Befriedigung und Belastung schlagen sich als Plus bzw. Minus in unserem Körpererleben nieder. Ich fühle mich entweder wohl in meiner Haut oder würde am liebsten aus ihr fahren. Atmung, Blutdruck und das Immunsystem funktionieren unterschiedlich gut, je nachdem ob man vor einem kritischen Auditorium einen Vortrag hält oder mit langjährigen Freunden feiert. Ob man will oder nicht: jeden Tag Moment des Lebens gibt es Körper-Kontobewegungen. Entweder erfolgen Abbuchungen oder Einzahlungen. Ein Beispiel: Schmerzen lassen sich in Anwesenheit einer geliebten Person leichter aushalten: Ein Vater, der im Kreißsaal seiner Frau die Hand hält, während das Kind zur Welt kommt, kann deren Schmerzen schnell und zuverlässig lindern. Händchenhalten mit einem fremden Mann (z.B. Gynäkologe) wirkt sich bei der Gebärenden dagegen nicht auf ihr Schmerzempfinden aus.
Wenn man auf das Böse in der Welt schaut, wird man leicht dem Wort zustimmen: ein Wolf sei der Mensch dem Menschen, kein Mensch (Thomas Hobbes). Genauso stimmt aber die Aussage, dass wir einander Segen sind. So hat etwa eine gute Mutter-Kind-Bindung einen beruhigenden Einfluss auf das Stressverarbeitungs-System im Kopf eines impulsiven Jungen. Als Heranwachsender kann der junge Mann bei Belastungen einen kühlen Kopf bewahren und sozial angemessen reagieren.
Umgekehrt sind Schmerzen und Schlafstörungen, Ängste und Depressionen häufiger bei Personen zu finden, die eine unsichere Bindung aufweisen oder die soziale Ausgrenzung erfahren, etwa durch Mobbing oder eine Trennung. Menschen, die Erfahrungen der Verbundenheit machen, fühlen sich dagegen lebendiger und – sie leben im Durchschnitt länger als jene, die von anderen isoliert sind.
Sinnvolles Engagement - Mattering und Meaning
„Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ (Mt 16, 25) Der Schöpfer hat das Gehirn von der Evolution nicht dafür entwickeln lassen, damit wir als Einzelne glücklich werden, sondern dass wir als Gemeinschaft und Gesellschaft überleben. Während Seelsorger fordern, der Einzelne möge seine ihm von Gott geschenkten Talente für den Nächsten einsetzen, schauen Psychologen nüchtern darauf, was es mit den Beteiligten macht, wenn sich jemand für das Gemeinwohl engagiert. Wer sich für andere engagiert, ist nicht nur zufriedener mit seinem Leben, sondern auch gesünder als jemand, der nur an sich denkt. Dieser Ehrenamt-Effekt ist besonders stark bei Menschen, die sich in einer religiösen Gemeinschaft engagieren. Wer sich für die Sache Jesu begeistert, nimmt den anderen eher als Nächsten denn als Fremden wahr. So entsteht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: die beschenkte Person fühlt sich wertvoller und bedankt sich beim Geber, was wiederum dessen Selbstwert erhöht. Erlebte Bedeutsamkeit (mattering) ist für jeden und jede wichtig. Sinnhaftigkeit (meaning) in der Arbeit zu erleben, wirkt identitätsstiftend. Wer meint, sein Tun habe keinen Sinn für das Große und Ganze, kommt schnell zur inneren Kündigung. Wer will schon in einem Unternehmen arbeiten, das das Körperbudget über Gebühr belastet? Einer Studie zufolge wären Arbeitnehmer bereit, auf 23 Prozent (!) ihres Gehalts zu verzichten, wenn sie Sinnvolles zu tun hätten.
Hoffnungsvoll sterben
Wer geht gerne auf Beerdigungen? Keiner! Nicht nur, weil es traurig macht, von einem geliebten Menschen Abschied zu nehmen, sondern auch, weil unbewusst Gedanken an das eigene Lebensende aktiviert werden. Drei Psychologen (Sheldon Solomon, Jeff Greenberg & Tom Pyszczynski) bezeichnen das Wissen um die eigene Sterblichkeit als den „Wurm in unserem Herzen“.
Keiner weiß, wann und wie er sterben wird. Menschen mit Suizidabsichten schwanken zumeist hin und her zwischen dem Wunsch, zu leben und der Erwartung, das unerträgliche Leid möge aufhören. Fehlendes Zugehörigkeit-Erleben und Hoffnungslosigkeit sind wesentliche Voraussetzungen für einen Todeswunsch. So war es bei Thomas M., der Mobbing an seinem Arbeitsplatz ausgesetzt war.
In einer Studie, in der mehr als 1200 ältere Menschen einbezogen wurden, erfasste man das persönliche Ausmaß an Sinn-Erleben. Sinn-freudige Seniorinnen und Senioren hatten ein nur halb so großes Risiko, in den folgenden fünf Jahren zu versterben, als jene, die keinen bedeutsamen Lebenszweck für sich erkennen konnten.
Tröstlich finde ich den Gedanken, in der Welt zu Hause und im Himmel daheim zu sein. Ich würde mich freuen, den verstorbenen Freund Thomas M. wiederzusehen. Bis dahin synchronisiere ich mich immer wieder mit der tiefgehenden Erfahrung von Madeleine Delbrêl: „Je weiter ich gehe, desto fester glaube ich daran, dass wir mit einem Auftrag auf diese Welt kommen, den es zu erfüllen gilt. Man muss ihn entdecken und ihm dann unbedingt treu bleiben.“
Klaus Glas
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