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Individualisierung

03.01.2022

Klaus Glas

Von der Fremd- zur Selbstbestimmung

Hannah steht vor einem großen Spiegel. Im Vorbeigehen tupft ihr die Mutter mit dem Zeigefinger unbemerkt einen roten Punkt auf die linke Wange. Die Anderthalbjährige schaut verdutzt. Dann führt sie ihre linke Hand zum Gesicht, um den Farbfleck abzuwischen. Wenige Wochen zuvor streckte sie ihre Hand noch in Richtung Spiegel; erfolglos versuchte sie, den roten Fleck auf ihrem Spiegelbild zu ertasten. Jetzt weiß sie: das bewegte Bild dort im Spiegel, das bin „Ich“. Bereits ein halbes Jahr später kann sie aus einem Foto-Set, das gleichaltrige Mädchen und Jungen zeigt, ihr Konterfei zielsicher herausfischen. Hannah hat einen wichtigen Entwicklungssprung gemacht. Sie hat ein Empfinden von Selbst-Bewusstheit entwickelt.

 

Die Entwicklung des Selbst

Eltern fragen sich, wann und wie sich das Selbst-Bewusstsein ihrer Kinder entwickelt: „Weiß Hannah (2 J.), dass sie eine einmalige Persönlichkeit ist?“ „Weiß Noah (4 J.), dass er ein Junge ist und dass er später keine Mama werden kann?“ Weil man Kleinkinder nicht direkt nach Gedanken und Gefühlen fragen kann, liefern Verhaltensbeobachtungen Hinweise auf Entwicklungsfortschritte. Der britische Naturforscher Charles Darwin vertrat 1877 die Auffassung, das Bewusstsein des Selbst starte, wenn man erstmals sein Spiegelbild erkennen könne. Der Rouge-Test erfasst das Erkennen des eigenen Selbst im Spiegel und liefert einen Beleg für ein rudimentäres Selbstkonzept. Zwischen 15 und 18 Monaten fangen die kleinen Leute an, ihre eigene Nase anzufassen, wenn sie den roten Fleck im Spiegel sehen. Kinder in diesem Alter haben offenbar ein Schema davon, wie ihr Gesicht aussehen sollte und fragen sich: „Was hat der rote Fleck in meinem Gesicht zu suchen?“

Mit vier Jahren bejahen manche Jungen die Frage, ob sie später einmal Mutter werden könnten. Ein Jahr später ist den Jungs dann klar, dass sich ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht ändern lässt. Die wahrgenommene Geschlechtskonstanz ist eine wichtige Voraussetzung für die Geschlechtsidentität als Mädchen oder Junge. Eltern fördern - oft unbewusst - die Individualisierung ihrer Kinder, indem sie beschreibende („Noah, du bist ein großer Junge“) oder bewertende („Hannah, du bist wirklich ein schlaues Mädchen“) Äußerungen machen. In ihren Selbstbeschreibungen beziehen sich Kinder selbst auf Dinge, die sie gerne tun („Ich singe und tanze gern“) oder auf Lebewesen, die sie mögen („Ich mag meine Katze Kira“). Sie neigen dabei zu „positiven Illusionen“: die Selbstwertungen sind extrem positiv. „Jüngere Kinder scheinen zu denken, dass sie tatsächlich so sind, wie sie sein wollen“, sagt die Entwicklungspsychologin Nancy Eisenberg. Kinder mit einem positiven Selbstkonzept haben mehr Selbstvertrauen, erleben sich kompetent, optimistisch und in der Gruppe Gleichaltriger als durchsetzungsfähig.


Gesundes und krankes Selbstwertgefühl

So wie das Immunsystem die Aufgabe hat, den Organismus vor krank machenden Viren und Bakterien zu schützen, hat das Selbst die Funktion, bedrohliche Nachrichten von der Psyche fernzuhalten. Jede und jeder strebt deswegen unbewusst nach einem positiven Lebensgefühl. Wir möchten uns gut fühlen, wollen uns kompetent erleben und von anderen geliebt werden. Nicht nur Kinder, auch Erwachsene unterliegen positiven Illusionen. Die meisten von uns stellen sich positiver dar als der Durchschnitt. Wir halten uns selbst für die besseren Autofahrer, die liebevolleren Partner und die patriotischeren Bürger. Dem Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe zufolge gehört das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz zu den psychischen Grundbedürfnissen.

Menschen mit einem niedrigem Selbstwertgefühl neigen dazu, sich und ihre Angehörigen mit erfolgreichen Personen oder bekannten Institutionen in Verbindung zu bringen. Vor Jahren erzählte mir eine ältere Dame, sie sei stolz auf ihren Sohn, der beim ZDF in Mainz angestellt sei. Auf meine Frage, wie der Moderator heiße, sicher hätte ich ihn schon im Fernsehen gesehen, meinte sie: „Er arbeitet dort als Gärtner.“

Die Vorteile eines gesunden Selbstwertgefühls sind empirisch gut abgesichert: „Wer sich mit sich selbst wohl fühlt, erlebt seltener schlaflose Nächte, erliegt weniger leicht dem Druck zur Konformität, zeigt mehr Ausdauer bei schwierigen Aufgaben, ist weniger schüchtern, weniger einsam und einfach glücklicher, resümiert David G. Myers, Psychologie-Professor am Hope College in Michigan (USA).


Viele Jahre wurde angenommen, mangelnder Selbstwert sei die Ursache zahlreicher psychischer Störungen und zwischenmenschlicher Probleme. Der US-amerikanische Sozialpsychologe Roy F. Baumeister legte sich mit seiner Zunft an und verwies auf die dunkle Seite des Selbstwertes. Er belegte in den 1990er Jahren seine These mit zahlreichen Studien. Die Vorstellung, sexuell gewalttätige Männer hätten ein niedriges Selbstwertgefühl, das sie durch ihre Taten zu stabilisieren versuchten, entlarvte der Experte als Mythos. Männliche Täter haben seiner Überzeugung nach ein übersteigertes Selbstwertgefühl: „Die Wurzeln der Gewalt liegen in der Kluft zwischen einer sehr positiven Selbsteinschätzung und einer negativen Einschätzung durch andere“, betont Baumeister.


Individualistische Gesellschaften

Unter Individualisierung verstehen Soziologen den mit der Aufklärung einsetzenden Prozess von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Einschränkend muss man sagen, dass Belege für diese Theorie überwiegend in westlichen Gesellschaften gefunden wurden. Eine Arbeitsgruppe um den Kulturwissenschaftler Geert Hofstede hat einen Individualismus-Index (IDV) entwickelt. Demnach rangieren die USA, Australien und Großbritannien auf den ersten drei Plätzen. Zu den individualistischen Nationen gehört auch Deutschland, das mit seinem IDV-Wert auf Rang 19 liegt. Wer in einem individualistisch orientierten Staat aufwächst, lernt früh, auf eigenen Beinen zu stehen. Kinder sollen dieser Lebensweise zufolge frühzeitig in ihrem eigenen Bett schlafen und baldmöglichst eine Krippe besuchen. Später sollen sich die jungen Leute in einem Beruf verwirklichen, der ihren Neigungen und Talenten entspricht.


Die überwiegende Mehrheit der Menschen lebt in kollektivistischen Gesellschaften. Zu diesen zählen Guatemala, Indonesien und Taiwan. In diesen Regionen der Erde werden die Kinder in eine Familie hineingeboren, die wiederum Teil einer größeren Gruppe ist. Die Kleinen schlafen oft noch beim Schuleintritt im Familienbett. Quelle der persönlichen Identität ist die Wir-Gruppe. Sie bietet Schutz vor den Gefahren des Lebens. Der Wir-Gruppe schulden die Heranwachsenden Loyalität - lebenslang. Dementsprechend gehören Kontaktabbruch und Verrat zu den schlimmsten Vergehen in diesem Kulturkreis.

Es gibt eine Vielzahl von kleinen und großen Unterschieden zwischen kollektivistisch und individualistisch geprägten Gesellschaften. So gibt es Studien zur Geh-Geschwindigkeit, wobei gemessen wird, wie lange eine Person braucht, um eine Strecke von 20 Metern zurückzulegen. Mit weiteren Faktoren haben Wissenschaftler einen Lebenstempo-Index entwickelt. Das höchste Lebenstempo hat man erwartungsgemäß in westeuropäischen Ländern festgestellt. Der Neurowissenschaftler Shane O'Mara interpretiert diesen Befund so: „Wir gehen schneller, weil wir unbewusst mit anderen konkurrieren, die hinter den gleichen Ressourcen her sind.“


Die häufige Bezugnahme auf das Selbst („ich“, „mich“, mein“), wie dies in westlichen Gesellschaften üblich ist, hat seinen Preis. Der erhöhte Selbst-Fokus geht mit einem Mehr an negativen Emotionen einher. Das ist leicht nachvollziehbar. Wenn es in meiner Umgebung immer jemanden gibt, der besser ist oder dem es besser geht als mir, fühle ich mich schnell bedroht und entwickle Angst und Neid. Ärger und Wut entstehen, wenn ich mich in meiner Freiheit eingeschränkt fühle. Das könnte ein Grund dafür sein, warum Corona-Maßnahmen und die Ankündigung einer möglichen Impflicht gerade in westeuropäischen Ländern so stark bekämpft werden. Geert Hofstede verweist auf unterschiedliche Werte: „Freiheit ist ein individualistisches Ideal, Gleichheit ein kollektivistisches.“


 

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