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Weniger ist mehr

08.07.2023

Zur Psychologie des Minimalismus

Kürzlich hatte ich Gelegenheit, Elektroautos zu bestaunen, die sich Verwandte und Bekannte zugelegt hatten. Ein Nachbar kutschiert mit einem französischen Stadt-Stromer durch die Straßen, ein Band-Kollege erfreut sich an einem schicken E-Tech-Kompaktwagen und meine Schwägerin fährt einen coolen elektrischen Kleinwagen aus Bayern. Meine Frau und ich überlegten, ob wir unseren Verbrenner verkaufen und ein E-Auto erwerben sollten. Nachdem die Begehrlichkeit geweckt war, recherchierte ich, ob dem Lustkauf etwas entgegen stehen könnte – und wurde fündig. Wir hatten bei unseren Recherchen den ökologischen Rucksack übersehen. Darunter versteht man jene Menge an Ressourcen, die bei der Herstellung und der späteren Entsorgung eines Fahrzeuges verbraucht werden. Hans-Werner Sinn, Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Präsident des ifo Instituts, hatte mit Kollegen festgestellt, dass der CO2-Rucksack so groß ist, dass ein E-Auto erst nach einer Laufzeit von 219.000 Kilometern ökologisch besser dasteht als ein VW Golf, der mit Diesel fährt (Stand: September 2019).

Macht Materialismus glücklich?
Diese Frage kann man klar mit nein beantworten. Forscher befragten 12.000 angehende Studierende zu ihren Einstellungen zum Leben. 19 Jahre später untersuchte man die im Berufsleben stehenden Versuchsteilnehmer:innen erneut. Das Ergebnis: Wer als 18-jähriger Student Geldverdienen als oberstes Ziel angegeben hatte, war im Alter von 37 Jahren weniger glücklich als ein Kollege, dem die Kohle als Kommilitone weniger wichtig war. Zudem litten materialistisch orientierte Personen mehr unter psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und stressbedingten Beschwerden. Die Tendenz, Dingen anzuhängen, entwickelt sich früh im Leben. So neigen Grundschüler, die sich sozial ausgegrenzt fühlen, dazu, mehr haben zu wollen: teure Marken-Turnschuhe und/oder die neueste PlayStation. Interessanterweise haben 10-Jährige im habituellen Haben-Modus schlechtere Noten als jene Kids, denen es nicht so wichtig ist, ein stylisches iPhone im Schulranzen mit sich zu führen.

Bei einer Befragung von 800 Reichen mit einem Privatvermögen von mehr als 10 Mio. US-Dollar gab die Hälfte an, der Wohlstand habe sie nicht glücklicher gemacht. Ein Drittel der Befragten erklärte gar, Geld löse keine Probleme, sondern schaffe erst welche. Der US-amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright (1867 – 1959), dessen organische Architektur dem Prinzip „Einfachheit und Ruhe“ folgt, brachte das Lebensgefühl der Reichen auf den Punkt: „Viele reiche Leute sind kaum mehr als die Hausverwalter ihrer Besitztümer.“

Die britische Psychologin Helga Dittmar führte mit ihrem Team 2014 eine Metaanalyse durch; sie wertete mehr als 150 Studien zum Thema Materialismus aus. Das Ergebnis: unabhängig vom Geschlecht, dem Lebensalter sowie der Kultur und dem jeweiligen Wirtschaftssystem hat das Streben nach Hab und Gut einen negativen Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden. Die Psychologin und Glücksforscherin Sonja Lyubomirsky erklärt die Befunde so: „Vermutlich lenkt uns der Materialismus von sinn- und freudvolleren Aspekten des Lebens ab, etwa von der Pflege der Beziehungen zu Freunden und Familie, die Freude am Hier und Jetzt oder der Bemühung um einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft.“

Weniger ist mehr
Wir leben in einer Muliple-Choice-Gesellschaft: aus einer Vielzahl von Dingen und Dienstleistungen können wir wählen, was am besten zu uns passt. Man könnte meinen, es ginge uns damit besser als unseren Vorfahren, die weniger konsumierten. Dem ist aber nicht so. Denn manche Menschen leiden unter der Qual der Wahl und entscheiden sich am Ende für - nichts. Das hat man in Feldexperimenten herausgefunden. In einem Lebensmittelgeschäft durften Kunden sechs Sorten Marmeladen verkosten; immerhin jeder Dritte kaufte vor Ort von dem süßen Brotaufstrich. Als man die Situation veränderte und 24 Marmeladen zum Kauf anbot, probierten die Kunden mehr, aber lediglich drei Prozent erwarben ein Glas Marmelade. Kurzum, die Qual der Wahl hatte einen lähmenden Effekt auf das Entscheidungsverhalten.

In einer anderen Studie waren Probanden glücklich mit einer Schokolade, wenn sie diese aus einem kleinen Sortiment aussuchen sollten. Wer dagegen aus 30 Schoko-Sorten auswählen durfte, war am Ende unzufriedener mit seiner Wahl. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Entscheidung für eine Süßigkeit mit dem Zurücklassen 29 anderer Köstlichkeiten verbunden war. Das kann ganz schön frustrierend sein.

Barry Schwartz spricht in diesem Zusammenhang vom „Paradoxon der Wahl.“ In seinem Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit, Warum weniger glücklicher macht“ verweist er auf zwei grundlegende Entscheidungsmuster: Maximierung oder Begnügung. Maximierer versuchen, bei jeder Wahl die beste Lösung für sich zu erzielen. Wenn eine Freundin einen runden Geburtstag hat, ist eine Maximierungs-Madame tagelang damit beschäftigt, die coolste Geburtstagskarte und das originellste Geschenk zu finden. Als Maximierungs-Max, der schon viele Partnerinnen hatte, auf seine neue Freundin angesprochen wird, meint er: „Mit Beziehungen ist es wie mit guten Jeans: Ich gehe davon aus, dass ich viele ausprobieren muss, bevor ich die Richtige finde.“ Maximierer nehmen große Mühen auf sich, um die optimale Entscheidung zu fällen, sind aber hinterher mit der getroffenen Wahl unglücklich, weil sie daran denken, wie es gewesen wäre, wenn sie sich für eine andere Möglichkeit entschieden hätten: hätte, hätte, Fahrradkette...

Begnüger hingegen sind in der Schule und im Alltagsleben mit einer 2 Minus zufrieden; sie streben gar nicht erst an, Klassenbester zu werden. Als Erwachsene schauen sie vor dem Kauf eines Notebooks nach dem Preis-Leistungs-Sieger. Oder sie fragen einen Freund, wie zufrieden dieser mit seinem Rechner sei und erwerben alsbald das gleiche Produkt. Was Wunder, dass Menschen, die schnelle Entscheidungen fällen, zufriedener sind; sie haben den Kopf frei für die schönen Dinge des Lebens. Und das sind - genau genommen - keine Sachen, sondern schöne Erlebnisse. Im Haben-Modus geht es ums Raffen, Horten und Besitzen. Im Sein-Modus will man Lernen, Lieben, sinnvoll Leben.

Einfach leben
Eine junge Patientin weigerte sich, Informationsblätter mitzunehmen. Ihre ablehnende Geste begleitete sie mit den Worten „No Waste“. Sie wolle im Alltag unnötigen Müll vermeiden. Deshalb kaufe sie auch im Unverpackt-Laden ihres Wohnortes ein. Diese freiwillige Einfachheit findet immer mehr Anhänger:innen. Fast 90 Prozent der Minimalisten fühlen sich mit dem neu gewählten Lebensstil wohler als mit ihrem vormaligen Haben-um-jeden-Preis-Verhalten.

Verzichten wollen manche jungen Leute auch auf eine berufliche Karriere im klassischen Sinn. Acht Stunden täglich arbeiten an fünf Tagen der Woche? Das war oder ist der Alltag der Baby-Boomer, der zwischen 1955 und 1969 Geborenen. Heutzutage geht der Trend zum Downshifting, dem Verringern der Arbeitszeit. Ein Viertel der Millennials, der Generation der zwischen 1980 und 1995 Geborenen, will weniger arbeiten als weiland ihre Eltern. Wer weniger Stunden im Büro sitzt, ist motivierter und weist weniger Krankheitstage auf als jemand, der voll erwerbstätig ist. Denn Angestellte, die ihre Wochenarbeitszeit gekürzt haben, nutzen die zusätzliche Freizeit, um ihre körperliche Fitness zu erhalten. Die junge Generation legt im Vergleich zu früheren Jahrgängen weniger Wert auf Geld und Besitz. Sie strebt stattdessen nach neuen Erfahrungen und einem mitfühlenden Miteinander.

Wenn sie es richtig anstellen, befinden sich die jungen Leute womöglich öfter in jenem Sein-Modus, den Erich Fromm in seinem Klassiker „Haben oder Sein“ empfohlen hat: „Haben bezieht sich auf Dinge, und Dinge sind konkret und beschreibbar. Sein bezieht sich auf Erlebnisse, und diese sind im Prinzip nicht beschreibbar.“

Klaus Glas


 

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