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Menschen, Kriege, Aggressionen

13.06.2022

Klaus Glas

Zur Psychologie der Gewalt

Drei Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine 2022 waren in Berlin mehr als Hunderttausend Menschen auf die Straße gegangen. Einer der Teilnehmer, ein junger Mann Mitte 20, sagte einem Fernseh-Reporter: „Es verändert mein Weltbild, weil ich so aufgewachsen bin, dass es immer Frieden geben wird.“ [rbb24 vom 27.02.2022]

Das Lebensgefühl vom immerwährenden Frieden scheint in die Hirnwindungen der jungen Generation einprogrammiert zu sein. Wir haben vergessen, dass der „lange Frieden“ seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch nicht einmal 80 Jahre alt ist. Auf die Menschheitsgeschichte bezogen ist das ein klitzekleiner Zeitabschnitt. Man muss dem 1888 verstorbenen britischen Rechtshistoriker Henry Maine recht geben, der einmal sagte: „Krieg scheint so alt zu sein wie die Menschheit. Frieden aber ist eine moderne Erfindung.“

Kriege und Frieden
Die meisten Menschen sind überzeugt, das 20. Jahrhundert sei das blutrünstige in der Menschheitsgeschichte gewesen. Tatsächlich kamen allein im Zweiten Weltkrieg 55 Millionen Menschen ums Leben. Richtig ist aber auch, dass es in früheren Jahrhunderten weitaus mehr Kriege gab. In dem brillanten Buch „Gewalt - eine neue Geschichte der Menschheit“ von Steven Pinker findet sich eine Tabelle, in der die 20 größten Gräueltaten angeführt sind, die Menschen aneinander angetan haben. Pinker hat die Opferzahl der früheren Kriege ins Verhältnis gesetzt und berechnet, wie viele Opfer es gewesen wären, wenn die Welt damals schon die gleiche Bevölkerungszahl gehabt hätte wie zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wurde das bis dato größte Blutbad angerichtet im 8. Jahrhundert. Im dem acht Jahre dauernden An-Lushan-Aufstand wurde die Bevölkerung des chinesischen Reiches um zwei Drittel dezimiert. Bezogen auf die Bevölkerungszahl um 1950 wären das 429 Millionen Tote.

Auf Platz zwei der schaurigen Liste liegen die Mongolischen Eroberungen von Dschingis Kahn und seinen Erben. Der Begründer des Mongolischen Reichs hatte zu Lebzeiten große Macht und viele Reichtümer angehäuft. Dschingis Khan war Vater zahlreicher Kinder, wobei die allermeisten keine Frucht der Liebe waren, denn der mutwillige Mongole vergewaltigte unzählige Mädchen und Frauen. Nach Berechnungen von Genetikern gelten nachweislich rund 16 Millionen Männer (!) als Nachfahren des Mongolen-Führers. Die Todesursache von Dschingis Khan, den viele nur aus dem gleichnamigen deutschen Schlager kennen, ist nicht geklärt. Einige Historiker nehmen an, er sei an den Folgen eines Reitunfalls verstorben. Einer volkstümlichen Überlieferung zufolge wurde er von einer Prinzessin getötet, die der erwarteten sexuellen Gewalt ein unrühmliches Ende setzte: die Königstochter soll den Frauenschänder kastriert haben.

Wenn man die Geschichte der Gewalt studiert, könnte man den Eindruck gewinnen, die Welt werde immer schlechter. Erinnern Sie sich an das Lied „Banküberfall“? Es wurde Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht von der österreichischen Pop-Band „Erste Allgemeine Verunsicherung (EAV)“. Der Refrain des Songs endet mit der Zeile „Das Böse ist immer und überall!“ Ob die Herren aus Austria recht haben? Ja und nein! Schaut man in die Medien, ist der Trend eindeutig. In einer Vielzahl von Studien hat der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger nachgewiesen, dass die Berichterstattung zunehmend mehr auf die dunkle Seite der Welt schaut. 1989 berichtete die „Tagesschau“ in 41 Prozent ihrer Beiträge über negative Ereignisse. 25 Jahre später, 2014, waren fast 60 Prozent der Nachrichtensendung Bad News. Bezogen auf die Jahrtausende alte Geschichte der Gewalt geht der Trend jedoch in eine gänzlich andere Richtung. Steven Pinker wird nicht müde, die gute Nachricht in seinen Büchern zu predigen. Der amerikanisch-kanadische Psychologe sagt forsch und frei: „Ich weiß, dass die meisten Menschen es nicht glauben: Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer mehr zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.“

Männer: Täter und Opfer
„Männer neigen eher zu Extremen als Frauen, und zwar zu beiden Extremen. Dieses Muster lässt sich in der Natur und der Kultur beobachten“, sagt der Sozialpsychologe Roy Baumeister [„Wozu sind Männer eigentlich überhaupt noch gut?“]. Ob es um Grausamkeit oder Güte, Neid oder Neugierde, Selbstverliebtheit oder Selbstbeherrschung geht: immer finden sich an den Enden mehr Männer als Frauen. Junge Männer wurden einmal als „die gefährlichste Spezies der Welt bezeichnet“ [Der Spiegel 2/2008]. Ein Großteil der Straftaten auf der Welt wird von Jungs und männlichen Heranwachsenden zwischen 14 und 20 Jahren verübt. Neunzig Prozent der Gewaltverbrechen (Mord, Vergewaltigung, Raubdelikte) gehen auf das Konto der Männer. Zugleich haben Männer ein deutlich höheres Risiko als Frauen, Opfer einer Gewalttat zu werden. In dem Gangster-Epos „Es war einmal in Amerika“ (1984) wird eindrücklich dargestellt, wie es Jungen ergeht, die Teil einer Bande im New York der 1920er Jahren sind. Das Prinzip „Auge um Auge“ führt dazu, dass einige der jugendlichen Täter selbst zum Opfer von Gewalt werden und sterben.

Der Mythos vom „reinen Bösen“
Baumeister, der sich in seinem Werk „Vom Bösen - Warum es menschliche Grausamkeit gibt“ intensiv mit dem Schrecklichen in der Welt auseinandergesetzt hat, benennt als ein Problem den „Mythos des reinen Bösen“. Dieser macht verschiedene Annahmen, die zu hinterfragen sind. Eine These lautet: ein böser Mensch strebt absichtsvoll danach, anderen um jeden Preis zu schaden. Menschen, die Böses tun, haben offenbar auch Spaß daran, andere leiden zu sehen. Die Opfer sind dagegen unschuldig, verletzlich und gut. Der Böse - der Mörder, der Machthaber - gehört zur dunklen Seite der Macht. Typischerweise haben die bösen Jungs ihre Gefühle nicht im Griff. Selbstregulation? Fehlanzeige! Schließlich braucht das Böse immer das Gute als Antithese: das Gute will Frieden, Freiheit und Ordnung. Das Böse will Krieg, Knechtschaft und Chaos.

Roy Baumeister warnt vor erheblichen Risiken und Nebenwirkungen: „Im Allgemeinen verschleiert der Mythos vom reinen Bösen die wechselseitigen Ursachen von Gewalt und trägt damit vermutlich zu einer Zunahme der Gewalt bei.“


Frieden schaffen (ohne Waffen)
Immanuel Kant hat in seiner Altersschrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) darauf hingewiesen, dass Friede kein natürlich vorgegebener Zustand ist. Vielmehr müsse der Frieden gestiftet und gestaltet werden. Hundertfünfzig Jahre später beeinflusste sein philosophischer Entwurf maßgeblich die Charta der Vereinten Nationen. Die Politikwissenschaftler Bruce Russett und John R. Oneal haben drei friedensstiftende Kräfte erforscht, die von Kant inspiriert sind: Demokratie, Handel und die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen. Diese Faktoren tragen - jede für sich genommen - zum Frieden bei, und sie verstärken sich wechselseitig.

Ideen können die Welt verändern, im Guten wie im Schlechten. So gibt es in der Forschung einen interessanten Befund: aggressive Hinweisreize erhöhen die Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten im Alltag. So aktiviert allein der Anblick einer Waffe bei unschuldigen Bürgerinnen und Bürgern böse Gedanken und Phantasien. Dieser Effekt ist vor allem bei Personen beobachtbar, die zuvor verärgert wurden. Ein Beispiel: Wenn jemand im Fernseher Bilder vom Ukraine-Krieg sieht, und er oder sie bei einer anschließenden Autofahrt von einem Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt genommen bekommt, kann es sein, dass er oder sie diesem den Stinkefinger zeigt. Der Sozialpsychologe Leonard Berkowitz, der den Waffen-Effekt als Erster beschrieb, ist überzeugt: „Waffen machen Gewalt nicht nur möglich, sie können sie auch anregen. Der Finger drückt zwar den Abzug, aber der Abzug kann auch den Finger ziehen.“

1982 erschien der Berliner Appell „Frieden schaffen ohne Waffen“. Die Verfasser waren der Chemiker und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Robert Havemann und der Pfarrer und Bürgerrechtler Rainer Eppelmann. Müssten wir nicht den vierzig Jahre alten Appell an die Regierenden von heute richten: „Wenn wir leben wollen, fort mit den Waffen! Und als erstes: Fort mit den Atomwaffen!! Ganz Europa muss zur atomwaffenfreien Zone werden.“


 

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