Fester Boden unter den Füßen: Am Lake Erie, USA, © H. Brehm

"Ihr Kind ist blind!" Nichts bleibt, wie es war...

19.08.2009

Wer kennt es nicht, von den Schwierigkeiten und Widrigkeiten des Lebens überrascht zu werden. Doch so einen richtigen Schlag des Schicksals entgegenzunehmen, anzunehmen und durchzuhalten, das ist etwas ganz anderes. Das haut einen erst mal um, das wirft einen aus der Bahn. Das löst eine ganze Reihe von Gefühlen aus: Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit: Wo, mein Gott, wo bist du nur jetzt? Jetzt, wo ich dich brauche?!

 

Der absolute Schock

Auch uns ging es nicht anders, als uns mitgeteilt wurde: „Ihr Kind ist blind." „Was??? Ja, aber ..." „Nein, es ist nichts mehr zu machen, endgültig. Wir verweisen Sie aber gern an eine zuständige Stelle. Guten Tag."

Da standen wir erst mal da, geplättet und gebügelt vom Schicksal. Ich brach in Tränen aus, und mein Mann brauchte erst mal Zeit, um zu begreifen, dass das Ganze Wirklichkeit war. Wir fuhren nach Hause und dachten: Jetzt ist alles aus. Wo ist das Leben?

Aber das Leben gestalten wir zum großen Teil selbst, und da Jammern uns nicht weiter brachte, beschlossen wir, das Beste aus dieser Situation zu machen. Dieser Augenblick war das Startsignal für unser Abenteuer Familienleben.

 

Startsignal für unser Abenteuer Familienleben

Es wurde nicht einfach alles besser, nein, so locker ging das nicht. Aber es fing an, interessant zu werden. Zuerst konnten wir ein schon begonnenes Bauvorhaben an meine Schwester abtreten, denn wir wollten unser Kind nicht in ein Internat geben, sondern notfalls mit ihm zusammen wegziehen. Dann kamen wir bei der Förderung unseres Kindes mit sehr interessanten Leuten zusammen. Wir lernten, uns über kleine Dinge zu freuen und unsere Welt mit neuen Augen zu sehen. Wir lernten mindestens so viel wie unser Kind.

 

Kurze Zeit später wurde uns die Wohnung gekündigt. Erst dachten wir: Auch das noch! Aber bald stellte sich heraus, dass es der ideale Zeitpunkt war. Da wir irgendwann sowieso wegziehen mussten, beschlossen wir, es gleich zu tun. So konnte unser großer Sohn direkt an unserem neuen Wohnort eingeschult werden, ganz in der Nähe der Blindenschule, die wir für unseren Jüngsten ausgesucht hatten.

 

Nur die Sache mit einer neuen Arbeitsstelle für meinen Mann war noch ganz offen. Meine Schwester, die zu der Zeit beim Arbeitsamt tätig war, riet uns, Bewerbungsunterlagen an das Arbeitsamt im Einzugsbereich der Blindenschule zu schicken. Das taten wir zwar, machten uns aber keine großen Hoffnungen. Als wir wieder einmal unterwegs zur Blindenschule waren, sahen wir unweit davon einen größeren Industriebetrieb. „Hier zu arbeiten, das könnte ich mir gut vorstellen", sagte mein Mann im Vorbeifahren. „Und wenn ich dann noch die Stelle als Ausbildungsmeister bekäme, das wäre wie Weihnachten und Ostern zusammen."

 

Wie Weihnachten und Ostern

Ein paar Tage später - ich hatte diese spontane Äußerung meines Mannes schon vergessen - klingelte das Telefon. Die männliche Stimme am anderen Ende brachte ein traumhaftes Angebot: „Sie sind mit Firma X. verbunden. Wir haben die Bewerbungsunterlagen Ihres Mannes vorliegen und suchen dringend einen Ausbildungsmeister. Könnte Ihr Mann sich vorstellen, bei uns einzusteigen?"

Nach dem Gespräch war ich total aufgeregt. Das konnte doch nicht wahr sein: Genau die Firma, die mein Mann für sich entdeckt hatte, bot uns von sich aus eine Stelle in seinem Wunschberuf an! Mein Mann war genauso fassungslos wie ich und fuhr so schnell wie möglich zu einem Vorstellungsgespräch. Einige Wochen später hatte er einen neuen Arbeitsvertrag. Wir waren überglücklich.

 

Jetzt brauchten wir nur noch eine Wohnung - und das möglichst bald, denn wir wollten keine Wochenend-Familie sein. So besorgten wir uns Zeitungen aus der Gegend, in die wir ziehen wollten. Aber es bewahrheitete sich, was meine Schwester uns durch ihren Kollegen ausrichten ließ: dass es einfacher sei, eine neue Stelle zu finden, als eine neue Wohnung. Nach kurzem Überlegen entschieden wir uns, ein Haus zu kaufen, da hier das Angebot größer war. Es folgte Besichtigung auf Besichtigung, und nach einer Weile hatten wir das richtige Haus gefunden, das dazu noch genau zum idealen Zeitpunkt frei wurde. Wieder ein Geschenk von oben!

 

Gott hatte vorgesorgt

Natürlich trieb uns die Frage um: Wie wird es am neuen Wohnort werden - ohne Freunde und Verwandte, mit zwei kleinen Kindern und eines davon blind? Doch auch dieses Mal konnten wir nur staunen. Noch bevor wir umgezogen waren, teilte uns die bisherige Hausbesitzerin mit, sie habe uns bei einem Biohof in der Nachbarschaft schon mal zum Milchholen angemeldet. Eine Anlaufstelle hatte ich also schon.

 

Am ersten Tag im neuen Haus dann - wir waren gerade am Auspacken - hörte ich plötzlich Lachen und Stimmengewirr. Ich schaute aus dem Fenster und entdeckte eine junge Frau, die fröhlich lachend versuchte, ein Schaf zum Gehen zu bewegen. Es war ein so lustiges Bild, dass ich mitlachen musste. Am Abend beim Milchholen staunte ich nicht schlecht: Die fröhliche junge Frau entpuppte sich als Landwirtin „unseres" Biohofes. Wir verstanden uns auf Anhieb, und was das Schönste war: In ihr hatte ich von Anfang an jemand, der mir, wenn nötig, ohne zu zögern die Kinder abnahm. Noch heute verbindet uns eine herzliche Freundschaft. Durch sie habe ich auch zu Schönstatt gefunden.

 

Wir haben das Leben neu entdeckt

Wenn ich heute auf die vergangenen elf Jahre zurückschaue, erfüllen mich tiefe Dankbarkeit und Freude. Wir haben das Leben nicht verloren, wir haben es neu entdeckt. Und nicht nur das: Wir durften Gott erfahren. Was wir dazu beitragen mussten, war, Ja zu sagen zu unserem Kreuz, es anzunehmen, wie es war. Als wir diesen Sprung gewagt hatten, wurde unser Leben zu einem Abenteuer. Zu einem Abenteuer im Entdecken der Spuren Gottes in unserer Familie. Bis heute kann ich nur staunen und danken.


L. I.

Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen

www.zeitschrift-begegnung.de


 

© 2024 Klaus Glas | Impressum | Datenschutzhinweise