Steg im Central Park, New York © H. Brehm

Vergeben ist gesund

23.10.2009


Wann immer Menschen zusammen leben, bleiben Verletzungen nicht aus: Enttäuschungen, Kränkungen, Missverständnisse. Die Forderung Jesu, immer wieder zu vergeben, ist kein leichter Weg. Er führt aber zur inneren Freiheit. Dabei sollte man die natürlichen Reaktionen der Psyche beachten.

 

Blickt man auf die 55 Jahre, die Pater Josef Kentenich priesterlich gewirkt hat, fällt auf, wie scheinbar leicht er Misserfolge, Enttäuschungen, Kränkungen, Verleumdungen und andere seelische Verwundungen verarbeiten konnte, ohne zu verbittern, aber auch ohne in Selbstmitleid zu versinken oder ständig anderen die Schuld zuzuweisen. Dabei hat er in seinem Leben viel Unrecht erlitten.

 

Als er nach drei Jahren KZ-Haft am 20. Mai 1945 nach Schönstatt zurückkehrt, widmet er sich ausgiebig seinem Werk - so, als ob nichts gewesen wäre. Keine Zeichen von Selbstmitleid oder Groll, keine Sehnsucht nach Rekonvaleszenz nach Jahren der Strapazen und Entbehrungen. Und als er nach 14 Jahren kirchlicher Verbannung von Papst Paul VI. empfangen wird, bedankt sich Pater Kentenich für das Wohlwollen des Papstes und für seinen Mut, ihn zu rehabilitieren. Gleichzeitig verspricht er ihm, sich mit seinem Werk für die nachkonziliare Sendung der Kirche einzusetzen und sie zu verwirklichen.

 

Wie kann ein Mensch, der solche Enttäuschungen im Leben erlitten hat - und ein starkes Gerechtigkeits- und Wahrheitsempfinden hat -, die Vergangenheit einfach hinter sich lassen und sich derart kraftvoll den Aufgaben der Zukunft zuwenden?

 

Alles überwinden durch den, der uns liebt

Der richtige Umgang mit den eigenen Verwundungen, die Kunst, die Selbstheilungskräfte der eigenen Seele zu aktivieren, die Fähigkeit, Leid in größere Liebe zu wandeln, war in Pater Kentenich besonders ausgeprägt.

 

Paulus konnte als reifer Mann im Römerbrief schreiben: Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Besten führt (Röm 8,28) und kurz darauf: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Christi. Alles überwinden wir durch den, der uns geliebt hat (Röm 8,37)". Wir spüren, dass solche Aussagen das Ergebnis eines langen Ringens sind. So kann nur jemand sprechen und schreiben, der die Verletzungen und Wunden seiner Seele ausheilen ließ.

 

Erste-Hilfe-Kurs für die Seele

Da wir alle immer wieder seelisch verletzt werden, ist es sinnvoll, auch für die Seele einen Erste-Hilfe-Kurs zu absolvieren, in dem wir den rechten Umgang mit uns selbst lernen. Rückschläge sind dabei vorprogrammiert. Menschen, deren Anerkennung und Zuwendung uns wichtig ist, weisen uns zurück; liebe Menschen verlassen uns, ziehen weit weg oder sterben. So mancher fühlt sich dann verraten und getäuscht. Spott und Demütigungen können sich über uns ergießen. Es wäre eine Illusion zu hoffen, man käme ohne Schrammen durchs Leben.

 

Wann immer Menschen zusammen leben, bleiben Verletzungen nicht aus: Enttäuschungen, Kränkungen, Missverständnisse, ... Die Forderung Jesu, immer wieder zu vergeben, ist kein leichter Weg. Er führt aber zur inneren Freiheit. Dabei sollte man die natürlichen Reaktionen der Psyche beachten. Es wäre eine Illusion zu hoffen, man käme ohne Schrammen durchs Leben.

Unser Herz nicht vergiften lassen

Wie vermeiden wir also, in den Sackgassen des Grolls zu verbittern oder unser Herz mit Rachegedanken vergiften zu lassen? Die Antwort der Bibel ist klar: Immer wieder betont Jesus die Notwendigkeit zu vergeben. Doch diese Botschaft überfordert Christen bisweilen; viele betrachten sie zumindest als schwierige Lektion. Statt in sich zu gehen, reagieren viele emotional und dürsten nach einer Bestrafung des Sünders. Gelingt dies, ist man scheinbar befriedigt. Allerdings dient ein solches Verhalten nicht der Heilung der eigenen Seele. Die Wunden bleiben.

 

Unmittelbar nach einer Verwundung können wir nicht reagieren, wie es Paulus beschreibt. Und wenn uns in einer solchen Situation jemand an die Worte von Paulus erinnert, tröstet das nicht, sondern bringt uns höchstens in Wut: Ich habe genug von Gottes Liebe. Soll er doch jemanden anderen lieben und ihm seine Aufmerksamkeiten schenken. Bei diesem Ringen um innere Heilung gibt es anscheinend bestimmte Phasen, die wir nicht überspringen sollten.

 

Phasen der seelischen Reaktionen
Herunterspielen

Da gibt es das anfängliche Herunterspielen des tatsächlichen Schmerzes. „Ach, so schlimm war's doch gar nicht!" Wir geben uns nach außen stark, im Innern aber rumort es weiter.

 

Schuld auf sich nehmen

Da nehmen wir vielleicht die ganze Schuld auf uns: „Wenn ich nicht das und das getan hätte, wäre mir dies nicht passiert." Beispielsweise fühlen sich viele Kinder schuldig an der Scheidung ihrer Eltern. Oder jemand verunglückt und wir erinnern uns siedend heiß, dass wir ihm vor zwei Monaten in einem Wutanfall die Pest an den Hals gewünscht haben. Folglich fühlen wir uns schuldig an seinem Unglück.

 

Im Selbstmitleid versinken

Da versinkt jemand in Selbstmitleid, weil er meint, dass er die Verletzung, die man ihm zugefügt hat, nicht verdient hat. Er erwartet kaum etwas von sich. Vielmehr lässt er sich auf Kosten seiner Umwelt gehen und attackiert jeden, der es wagt, etwas dagegen zu sagen.

 

Hass gegen Unbekannt

Wir sind wütend, nicht nur auf die Menschen, die uns verletzt haben, sondern auf die ganze Welt. Wir möchten diejenigen, die uns wehgetan haben, dafür bezahlen lassen und ebenso leiden sehen, wie wir gelitten haben. Uns fehlt jegliche Toleranz. Unsere Selbstgerechtigkeit erreicht einen Höhepunkt. „Hass gegen Unbekannt" gab ein jugendlicher Randalierer als Tatmotiv an. Wenn Menschen im Umgang mit ihren Verwundungen in dieser Phase stecken bleiben und politische Macht bekommen, kann es zu solchen Exzessen wie im Irak, Bosnien oder Ruanda kommen.

 

Mir wird bewusst: Ich habe überlebt

Erst wenn wir uns durch den Strudel dieser selbst-zerstörerischen Gefühle durchgearbeitet haben, sind wir in der Lage zu erkennen, dass wir trotz aller Verletzungen über - lebt haben. Wir haben schmerzliche Erfahrungen gemacht, aber wir haben auch dazugewonnen. Wir werden uns mehr und mehr unserer Stärken bewusst: Unser Mitgefühl, unser Humor, unser Interesse an Dingen jenseits des eigenen Schmerzes kehren zurück.

 

Vom Schmerz verabschieden

In der sechsten Phase, der „Endrunde", er - kennen wir vielleicht, dass die Menschen, die uns verletzt haben, möglicherweise auch ihr Bestes getan, oder zumindest gewollt haben; dass sie vielleicht nicht nur Täter sind, sondern auch Opfer. Dank dieser Erkenntnis können wir sie aus dem seelischen Gefängnis, in das wir sie gesteckt haben, befreien und die Kraft freisetzen, die wir bisher daran verwendeten, sie zu strafen. Wir können uns vom Schmerz verabschieden und unbelastet von überflüssigem emotionalem Gepäck unseren Weg fortsetzen.

 

Diese sechs Phasen durchlaufen wir in den seltensten Fällen schön der Reihe nach. Häufig gibt es Rückfälle in frühere Phasen. Männer neigen eher dazu, in der Wutphase stecken zu bleiben, Frauen eher in der Selbstmitleidphase. Es kann auch vorkommen, dass nach Jahren alte Wunden wieder aufbrechen und wir scheinbar von vorne anfangen müssen.

 

Geh und versöhne dich mit deinem Bruder

Jesus sagt ganz klar: „Wenn dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass zuerst deine Gabe liegen, geh und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm' und opfere deine Gabe (Mt 5,24). Jesus sagt also nicht: „Wenn du etwas gegen deinen Bruder hast..." Wenn wir spüren, dass eine Beziehung gestört ist, sollen wir unabhängig von der Schuldfrage initiativ werden. Je eher eine Belastung aus dem Weg geräumt ist, desto besser.

 

in: „unser weg", Schönstatt Familienmagazin, 2/2007
www.unserweg.com

 

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