Foto: Rainer Sturm/ pixelio.de

Befreiter leben

13.03.2016

 

 

Wege aus dem Dschungel der Gefühle

Manchmal vermisse ich nichts mehr als das: Ausgeglichenheit! Ein gelassenes „Auf-den-Tag-Zugehen“, schon morgens, beim Aufstehen. Um dann mit beiden Beinen geerdet dazustehen – so, dass mich die erste „Überraschung“ nicht schon gleich umwirft und ich, innerlich vollbepackt mit dieser Negativerfahrung, durch den Tag stolpere. So, dass ich den Menschen und Aufgaben um mich herum offen und frei vom üblichen Gefühls-Wirrwarr begegnen und gute Entscheidungen treffen kann.

 

An manchen Tagen genügt wenig, um mich total aus dem Konzept zu bringen. Zum Beispiel der seltsame Blick der Nachbarin, der über meine neue Frisur streicht, ohne dass sie eine Bemerkung macht. Aha, kombiniere ich, anscheinend sehe ich unvorteilhaft aus, sonst würde sie doch etwas sagen! So etwas kann schon reichen, um mich anschließend verunsichert zum Einkaufen fahren zu lassen. Und wenn ich dann nach Hause zurückkomme und feststelle, dass ich ausgerechnet die Lasagne-Platten vergessen habe, kann es sein, dass mich angstvolle Gedanken in Beschlag nehmen: Warum ich in letzter Zeit wohl so viel vergesse? Ob etwas in meinem Kopf nicht stimmt? Ich habe in letzter Zeit ja auch häufiger Migräne-Attacken. War das nicht auch so bei Katja, ehe sie erfuhr, dass sie einen Gehirntumor hat?

 

Von kleinen, ärgerlichen Gedanken

Von solchen Gedanken-Monstern durch den Tag getrieben, bin ich abends kaputt – nicht wegen meiner Tagesaufgaben, sondern wegen der verworrenen, völlig überzogenen „Zersorgungs-Gefühle“, die sie in mir auslösen. Da lasse ich zu, dass unwichtige Begebenheiten und unbedeutende Einzelheiten zu Hauptthemen hochstilisiert werden, die dem wirklich Wichtigen Platz rauben und meine Seele besetzt halten – ehe so etwas wie Leichtigkeit, Ruhe und Ausgeglichenheit überhaupt einziehen könnte.

Was geht in solchen Gefühls-Wirrwarr-Situationen eigentlich in mir vor? Und wie kommt das zustande? Welchen Weg finde ich, damit ich durch die vielen kleinen Gedanken, die mich ärgern, hindurchfinde zu den großen, die mich stärken?

 

Wahrnehmen statt wegschieben und verdrängen

Oft haben wir ein eher angespanntes Verhältnis zu unseren Gefühlen. Solange es Gefühle der freudigen Erwartung, des glücklichen Verliebt-Seins, Gefühle von Spaß, Lust, Neugier oder Stolz auf uns selbst sind, sind sie herzlich willkommen. Doch wenn wir Gefühle wie Enttäuschung, Angst, Traurigkeit, Wut, Ärger, Anspannung oder Verwirrung durchleben, wehren wir uns unwillkürlich dagegen und möchten sie am liebsten schnellstmöglich abschütteln oder verdrängen. Doch in der Regel ist es so: Diejenigen Gefühle, die wir wegschieben, verneinen und bewusst nicht wahrnehmen wollen, werden dadurch nur stärker. Sie gedeihen unter der Oberfläche weiter und treiben Blüten, die das Ganze meist schlimmer werden lassen als das ursprüngliche unangenehme Gefühl auch nur im Ansatz war. Verdrängen und Verneinen hilft also nicht zu einem entspannten Umgang mit unangenehmen Gefühlen. Welche Wege gibt es aber dann?

 

Gefühle zulassen

Es ist ein interessantes Phänomen: Die meisten Gefühle verschwinden bald wieder, wenn wir bereit sind, ihnen bewusst Raum zu geben und sie wirklich zu fühlen. Das heißt: Um ein Gefühl wieder loszuwerden, müssen wir bereit sein, es zuzulassen und bewusst zu fühlen. Der Weg aus einem Gefühl heraus geht also erst mal mitten durch dieses Gefühl hindurch!

 

In unserer westlichen Welt werden wir schon im Kindergarten darauf getrimmt, die Welt um uns herum anzuschauen, sie einzuordnen und zu werten. Es sollen Handlungs-Maximen geschaffen werden, um nicht von unserem immer komplizierter werdenden Umfeld überrollt zu werden, sondern es souverän „händeln“ zu können. Etwas nur festzustellen, anzuschauen und nicht sofort mit einer Wertung zu versehen, können afrikanische Völker deutlich besser. Das geht dann eher so: „Ich bin gerade ängstlich – und das darf so sein!“ Oder: „Ich spüre im Moment Traurigkeit – und das ist okay so!“ Die Intensität von Gefühlen lässt nach, wenn wir den Widerstand gegen sie aufgeben und durchlässig für sie werden. Es ist ähnlich wie mit unseren kleinen Kindern: Sie nörgeln und nerven – und genau dann, wenn wir bereit sind, ihnen wirklich Raum zu geben und uns bewusst auf sie einlassen, hört das „Nerven“ plötzlich auf.

 

Ich bin nicht mein Gefühl

Ich darf mir immer neu klarmachen: Ich habe Gefühle, ich bin nicht mein Gefühl. Ich bin nicht ängstlich, sondern ich spüre gerade das Gefühl „Angst“. Ich bin nicht angespannt, sondern ich spüre momentan das Gefühl „Anspannung“ im Nacken. Schon allein diese Formulierung kann Abstand zu meinen Gefühlen schaffen. Ich bin nicht meine Gefühle, sondern ich spüre sie – und irgendwann verschwinden sie auch wieder.

 

Der Steuermann bin ich

Natürlich haben unsere Gefühle einen Einfluss auf unser Handeln, aber wir haben es in der Hand, was wir tun und wie wir reagieren wollen. Niemand kann mich beispielsweise daran hindern, trotz des Gefühls „Unlust“ meine Aufgaben zu erledigen. Oder: Ich ärgere mich über das, was jemand tut, aber ich kann trotzdem bewusst respektvoll bleiben. Wie sagte neulich der neunjährige Arne zu seiner Mutter: „Ich könnte dich an die Wand knallen, aber ich tu‘s nicht – ich bin ein freier Mensch!“

 

Pater Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, verstand es schon als junger Erzieher meisterhaft, die Jungen im Internat zu motivieren, die enge Koppelung von Gefühl und Handlung durch Selbsterziehung kleiner zu machen. Auf diese Weise entsteht zum Beispiel Selbstdisziplin: entschiedenes Handeln trotz Unlust. Oder es entsteht Mut: kraftvolles Handeln trotz Angst. Hanne erzählte neulich, die Erzieherin habe sie informiert, sie wollen diese Woche eine Aufklärungsstunde für die Kinder machen. Hanne habe – obwohl sie ein sehr stiller und schüchterner Typ sei – deutlich gesagt: „Ich möchte das für mein Kind nicht. Wann machen Sie diese Stunde? Dann lasse ich Lisa an diesem Tag zu Hause!“ Später habe ihr eine andere Mutter aus der KiTa-Gruppe gedankt: „Ich habe Ihr Gespräch mit der Erzieherin zufällig mitbekommen und Ihre Reaktion. Danke! So war ich vorgewarnt und konnte mich Ihrem Beispiel anschließen und ebenso antworten!“

Oder: In der Fastenzeit üben wir uns gerne in Selbstbeherrschung. Wir verzichten – trotz des starken Aufforderungs-Appells von Dingen, die uns normalerweise zum Genuss reizen. Und stellen dabei fest, wie glücklich und innerlich frei uns der Verzicht macht und wie viel bewusster und dankbarer wir später dann wieder dem Genuss frönen können.

 

Die Botschaft meiner Gefühle hören

Stündlich und minütlich nehmen wir eine Fülle von Informationen aus unserer Umwelt auf. Gefühle sind eine direkte Reaktion auf das, was um uns geschieht. Sie wollen uns etwas mitteilen: Ärger etwa zeigt an, dass jemand eine Grenze bei mir überschritten hat und ich aktiv werden darf, um etwas zu verändern. Angst weist darauf hin, dass Gefahr droht, signalisiert aber auch eine Möglichkeit, Neues zu lernen. Langeweile macht deutlich, dass wir in uns hineinhören, was jetzt wirklich dran sein könnte.

 

Ich treffe die Entscheidung - nicht mein Gefühl

Wenn wir bestimmte Gefühle haben, zum Beispiel wir fühlen uns unsicher oder Angst steigt hoch, müssen wir diesen nicht nachgeben und uns im Haus einigeln. Wir dürfen sie als Aufruf auffassen: Geh und stell dich! Wenn ich Angst vor Bergwanderungen habe, kann ich mich dieser Angst stellen, bewusst zur Tour antreten und neue Erfahrungen machen. Gerade bei Angst ist man oft gut beraten, sich der angsteinflößenden Situation auszusetzen – sozusagen Auge in Auge – und dadurch zu merken, wie die Angst kleiner wird oder ganz weggeht. Ein sehr befreiender Vorgang!

 

Gefühle in angemessener Form in Worten auszudrücken, erleichtert unsere Beziehungen immens. „Ich bin so glücklich mit dir!“ – „Ich fühle mich übergangen.“ Mir wurde neulich ganz deutlich: Wenn mein Mann oft viel später von der Arbeit heimkommt als üblich, werde ich zuerst unruhig und dann beginne ich zu nörgeln: „Immer kommst du zu spät!“ Ist ja nicht gerade der tolle Empfang einer liebenden Ehefrau für den von der Arbeit kommenden müden Ehemann ... Wenn ich tief in mich schaue und mich frage, was daran mich denn so unzufrieden macht, spüre ich: Mein Bedürfnis nach Nähe und Miteinander ist nicht abgesättigt. Dann hilft es, dies ins Wort zu bringen: „Ich fühle mich überfordert, wenn ich zu Hause alles alleine regeln soll. Ich brauche dich, du tust mir so gut. Ich kann meinen Tag mit dem Vielen, was er mit sich bringt, leben in dem Bewusstsein, dass du abends da bist und ich deine Nähe spüre. Aber ohne das werde ich ausgelaugt, überanstrengt und bitter. Ich wäre froh, wenn du abends wieder regelmäßig Feierabend machen würdest und wir noch Zeit miteinander hätten, bevor ich ins Bett falle.“

 

Zwischen aktuellen und alten Gefühlen unterscheiden

Viele unserer Gefühle treten nicht spontan und erstmals auf, sondern haben eine Vorgeschichte. Mein Onkel war herrschsüchtig und machthungrig, entsprechend wenig Kontakt hatten wir. Aber jetzt ist er alt und es blitzen immer wieder liebevolle Züge an ihm auf. Ich möchte diese „neue Zeit“, die wir geschenkt bekommen haben, um Schönes und Überraschendes an ihm zu entdecken, nützen und ihn nicht auf seine alte „Rolle“ festschreiben. Ich darf mir also die Freiheit geben, nicht mit den „alten“ Gefühlen auf bestimmte Situationen und Personen zu reagieren, sondern ich darf neue Gefühle zulassen; ich bin ein freier Mensch, der sich entscheiden kann, anders, neu, ungewohnt zu reagieren.

 

Schlag oder Chance

Gefühle sind in der Regel abhängig vom Denken. So kann ich ein Stück weit lernen, einen „Problem-Blick“ zu entwickeln – oder den „Geschenke-Blick“. Mutter Teresa forderte ihre Schwestern gerne auf, statt dem Wort „Problem“ das Wort „Geschenk“ zu benützen. Versuchen Sie das mal! Ich finde, es gibt eine deutlich entspanntere Sicht auf Probleme, wenn ich mir sage: „Ich habe da ein Geschenk!“ statt: „Ich habe da ein Problem!“ Sehe ich ein Problem als etwas Negatives oder als Herausforderung und Chance? Wenn Sie unerwartet gekündigt werden, können Sie das natürlich als großes Unglück ansehen – aber auch als Möglichkeit, sich neu zu orientieren und vielleicht etwas völlig Neues zu beginnen. Als die Israeliten Goliath sahen, jammerten sie: „So eine ‚Kampf-Maschine‘, den kann man ja gar nicht treffen!“ David dagegen sah Goliath kommen und sagte: „Der ist so groß, den kann ich gar nicht verfehlen!“

 

Die Stopp-Technik einsetzen

Manchmal hilft nur ein gezieltes Stoppen, wenn die Flut negativer Gefühle über uns hereinbricht. Am besten nicht weiter den Gefühlen nachgehen, sondern innerlich "Stopp" sagen, um dann von einer anderen Perspektive auf die Situation zu schauen. Es tut gut und ist äußerst hilfreich, in solchen Situationen still dazusitzen, sich an die Gegenwart Gottes zu erinnern und die Gedanken einfach kommen zu lassen, um sie IHM zu übergeben. Oder um ihn zu bitten, aus seiner Sichtweise darauf schauen zu dürfen. Da gewinnt das Bibelwort „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe verschaffen!“ (Mt 11,25) noch einmal ganz neu an Bedeutung.

Überhaupt ist die Gottesmutter – ganz Frau, leidenschaftlich liebende Frau und damit sehr erfahren im Umgang mit Gefühlen – eine sehr gute Wegweiserin durch den Dschungel meiner täglichen Gefühle.

 

Wegweiserin durch den Gefühle-Dschungel

Mir hilft es, mich einmal am Tag auszuklinken und mich bei Maria einzuloggen: Zehn Minuten durch den Wald gehen oder im Garten die Rosen betrachten oder auf dem Sofa sitzen und ins Kerzenlicht schauen und mit IHR ins Gespräch kommen … Das entspannt. Das erdet und lässt den Hysterie-Spiegel sinken und den Freuden-Spiegel steigen.

 

Warum sollten wir uns nicht in kurzen Stoßgebeten über den Tag verteilt an die „gefühls-kompetente“ Frau, die Gottesmutter, wenden und ihr zurufen: „Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter!“ Oder: „Begleite du mein Kind, ich kann nicht mit ihm gehen!“ Oder: „Lass mich jetzt auf meinen Mann zugehen, nachher ist es vielleicht zu spät!“ Oder: „Zeig mir doch, wie ich mit meiner Tochter reden soll!“ Oder: „Was kann ich Frau S. sagen zum Tod ihres Mannes?“ Oder: „Wie soll ich in dieser Sache entscheiden?“ Maria weiß immer einen Rat und teilt ihn gerne mit uns. Aber dazu braucht es Ruhe und Abstand. Nicht, weil sie nicht zu uns reden würde, wenn es laut und hetzig ist, nein, weil wir es in Turbulenz, Hektik und Lärm nicht hören können.

Die Rückkopplung an sie stärkt den Rücken, macht sicherer – und schon können die Gefühle nicht mehr so ohne weiteres über meinem Kopf zusammenschlagen.

 

Wäre das nicht etwas gerade für die Adventszeit? Mich von ihr anschauen lassen und ihr erzählen: „Gerade beutelt es mich wieder so, ich weiß nicht ein und aus und meine Gefühle spielen Achterbahn. „Bitte setz dich mitten rein und übernimm die Führung, damit ich nicht im Wirrwarr der Gefühle ersticke und falsche Entscheidungen treffe, sondern dorthin gelange, wo Gott mich haben will. ER und du, ihr sollt mich leiten – nicht meine Gefühle!“

 

Aus: BEGEGNUNG, Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 4/2015

www.zeitschrift-begegnung.de

 

Befreiter leben

Wege aus dem Dschungel der Gefühle

 

Manchmal vermisse ich nichts mehr als das: Ausgeglichenheit! Ein gelassenes „Auf-den-Tag-Zugehen“, schon morgens, beim Aufstehen. Um dann mit beiden Beinen geerdet dazustehen – so, dass mich die erste „Überraschung“ nicht schon gleich umwirft und ich, innerlich vollbepackt mit dieser Negativerfahrung, durch den Tag stolpere. So, dass ich den Menschen und Aufgaben um mich herum offen und frei vom üblichen Gefühls-Wirrwarr begegnen und gute Entscheidungen treffen kann.

 

An manchen Tagen genügt wenig, um mich total aus dem Konzept zu bringen. Zum Beispiel der seltsame Blick der Nachbarin, der über meine neue Frisur streicht, ohne dass sie eine Bemerkung macht. Aha, kombiniere ich, anscheinend sehe ich unvorteilhaft aus, sonst würde sie doch etwas sagen! So etwas kann schon reichen, um mich anschließend verunsichert zum Einkaufen fahren zu lassen. Und wenn ich dann nach Hause zurückkomme und feststelle, dass ich ausgerechnet die Lasagne-Platten vergessen habe, kann es sein, dass mich angstvolle Gedanken in Beschlag nehmen: Warum ich in letzter Zeit wohl so viel vergesse? Ob etwas in meinem Kopf nicht stimmt? Ich habe in letzter Zeit ja auch häufiger Migräne-Attacken. War das nicht auch so bei Katja, ehe sie erfuhr, dass sie einen Gehirntumor hat?

 

Von kleinen, ärgerlichen Gedanken

Von solchen Gedanken-Monstern durch den Tag getrieben, bin ich abends kaputt – nicht wegen meiner Tagesaufgaben, sondern wegen der verworrenen, völlig überzogenen „Zersorgungs-Gefühle“, die sie in mir auslösen. Da lasse ich zu, dass unwichtige Begebenheiten und unbedeutende Einzelheiten zu Hauptthemen hochstilisiert werden, die dem wirklich Wichtigen Platz rauben und meine Seele besetzt halten – ehe so etwas wie Leichtigkeit, Ruhe und Ausgeglichenheit überhaupt einziehen könnte.

Was geht in solchen Gefühls-Wirrwarr-Situationen eigentlich in mir vor? Und wie kommt das zustande? Welchen Weg finde ich, damit ich durch die vielen kleinen Gedanken, die mich ärgern, hindurchfinde zu den großen, die mich stärken?

 

Wahrnehmen statt wegschieben und verdrängen

Oft haben wir ein eher angespanntes Verhältnis zu unseren Gefühlen. Solange es Gefühle der freudigen Erwartung, des glücklichen Verliebt-Seins, Gefühle von Spaß, Lust, Neugier oder Stolz auf uns selbst sind, sind sie herzlich willkommen. Doch wenn wir Gefühle wie Enttäuschung, Angst, Traurigkeit, Wut, Ärger, Anspannung oder Verwirrung durchleben, wehren wir uns unwillkürlich dagegen und möchten sie am liebsten schnellstmöglich abschütteln oder verdrängen. Doch in der Regel ist es so: Diejenigen Gefühle, die wir wegschieben, verneinen und bewusst nicht wahrnehmen wollen, werden dadurch nur stärker. Sie gedeihen unter der Oberfläche weiter und treiben Blüten, die das Ganze meist schlimmer werden lassen als das ursprüngliche unangenehme Gefühl auch nur im Ansatz war. Verdrängen und Verneinen hilft also nicht zu einem entspannten Umgang mit unangenehmen Gefühlen. Welche Wege gibt es aber dann?

 

Gefühle zulassen

Es ist ein interessantes Phänomen: Die meisten Gefühle verschwinden bald wieder, wenn wir bereit sind, ihnen bewusst Raum zu geben und sie wirklich zu fühlen. Das heißt: Um ein Gefühl wieder loszuwerden, müssen wir bereit sein, es zuzulassen und bewusst zu fühlen. Der Weg aus einem Gefühl heraus geht also erst mal mitten durch dieses Gefühl hindurch!

 

In unserer westlichen Welt werden wir schon im Kindergarten darauf getrimmt, die Welt um uns herum anzuschauen, sie einzuordnen und zu werten. Es sollen Handlungs-Maximen geschaffen werden, um nicht von unserem immer komplizierter werdenden Umfeld überrollt zu werden, sondern es souverän „händeln“ zu können. Etwas nur festzustellen, anzuschauen und nicht sofort mit einer Wertung zu versehen, können afrikanische Völker deutlich besser. Das geht dann eher so: „Ich bin gerade ängstlich – und das darf so sein!“ Oder: „Ich spüre im Moment Traurigkeit – und das ist okay so!“ Die Intensität von Gefühlen lässt nach, wenn wir den Widerstand gegen sie aufgeben und durchlässig für sie werden. Es ist ähnlich wie mit unseren kleinen Kindern: Sie nörgeln und nerven – und genau dann, wenn wir bereit sind, ihnen wirklich Raum zu geben und uns bewusst auf sie einlassen, hört das „Nerven“ plötzlich auf.

 

Ich bin nicht mein Gefühl

Ich darf mir immer neu klarmachen: Ich habe Gefühle, ich bin nicht mein Gefühl. Ich bin nicht ängstlich, sondern ich spüre gerade das Gefühl „Angst“. Ich bin nicht angespannt, sondern ich spüre momentan das Gefühl „Anspannung“ im Nacken. Schon allein diese Formulierung kann Abstand zu meinen Gefühlen schaffen. Ich bin nicht meine Gefühle, sondern ich spüre sie – und irgendwann verschwinden sie auch wieder.

Der Steuermann bin ich

Natürlich haben unsere Gefühle einen Einfluss auf unser Handeln, aber wir haben es in der Hand, was wir tun und wie wir reagieren wollen. Niemand kann mich beispielsweise daran hindern, trotz des Gefühls „Unlust“ meine Aufgaben zu erledigen. Oder: Ich ärgere mich über das, was jemand tut, aber ich kann trotzdem bewusst respektvoll bleiben. Wie sagte neulich der neunjährige Arne zu seiner Mutter: „Ich könnte dich an die Wand knallen, aber ich tu‘s nicht – ich bin ein freier Mensch!“

 

Pater Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, verstand es schon als junger Erzieher meisterhaft, die Jungen im Internat zu motivieren, die enge Koppelung von Gefühl und Handlung durch Selbsterziehung kleiner zu machen. Auf diese Weise entsteht zum Beispiel Selbstdisziplin: entschiedenes Handeln trotz Unlust. Oder es entsteht Mut: kraftvolles Handeln trotz Angst. Hanne erzählte neulich, die Erzieherin habe sie informiert, sie wollen diese Woche eine Aufklärungsstunde für die Kinder machen. Hanne habe – obwohl sie ein sehr stiller und schüchterner Typ sei – deutlich gesagt: „Ich möchte das für mein Kind nicht. Wann machen Sie diese Stunde? Dann lasse ich Lisa an diesem Tag zu Hause!“ Später habe ihr eine andere Mutter aus der KiTa-Gruppe gedankt: „Ich habe Ihr Gespräch mit der Erzieherin zufällig mitbekommen und Ihre Reaktion. Danke! So war ich vorgewarnt und konnte mich Ihrem Beispiel anschließen und ebenso antworten!“

Oder: In der Fastenzeit üben wir uns gerne in Selbstbeherrschung. Wir verzichten – trotz des starken Aufforderungs-Appells von Dingen, die uns normalerweise zum Genuss reizen. Und stellen dabei fest, wie glücklich und innerlich frei uns der Verzicht macht und wie viel bewusster und dankbarer wir später dann wieder dem Genuss frönen können.

 

Die Botschaft meiner Gefühle hören

Stündlich und minütlich nehmen wir eine Fülle von Informationen aus unserer Umwelt auf. Gefühle sind eine direkte Reaktion auf das, was um uns geschieht. Sie wollen uns etwas mitteilen: Ärger etwa zeigt an, dass jemand eine Grenze bei mir überschritten hat und ich aktiv werden darf, um etwas zu verändern. Angst weist darauf hin, dass Gefahr droht, signalisiert aber auch eine Möglichkeit, Neues zu lernen. Langeweile macht deutlich, dass wir in uns hineinhören, was jetzt wirklich dran sein könnte.

 

Ich treffe die Entscheidung - nicht mein Gefühl

Wenn wir bestimmte Gefühle haben, zum Beispiel wir fühlen uns unsicher oder Angst steigt hoch, müssen wir diesen nicht nachgeben und uns im Haus einigeln. Wir dürfen sie als Aufruf auffassen: Geh und stell dich! Wenn ich Angst vor Bergwanderungen habe, kann ich mich dieser Angst stellen, bewusst zur Tour antreten und neue Erfahrungen machen. Gerade bei Angst ist man oft gut beraten, sich der angsteinflößenden Situation auszusetzen – sozusagen Auge in Auge – und dadurch zu merken, wie die Angst kleiner wird oder ganz weggeht. Ein sehr befreiender Vorgang!

 

Gefühle in angemessener Form in Worten auszudrücken, erleichtert unsere Beziehungen immens. „Ich bin so glücklich mit dir!“ – „Ich fühle mich übergangen.“ Mir wurde neulich ganz deutlich: Wenn mein Mann oft viel später von der Arbeit heimkommt als üblich, werde ich zuerst unruhig und dann beginne ich zu nörgeln: „Immer kommst du zu spät!“ Ist ja nicht gerade der tolle Empfang einer liebenden Ehefrau für den von der Arbeit kommenden müden Ehemann ... Wenn ich tief in mich schaue und mich frage, was daran mich denn so unzufrieden macht, spüre ich: Mein Bedürfnis nach Nähe und Miteinander ist nicht abgesättigt. Dann hilft es, dies ins Wort zu bringen: „Ich fühle mich überfordert, wenn ich zu Hause alles alleine regeln soll. Ich brauche dich, du tust mir so gut. Ich kann meinen Tag mit dem Vielen, was er mit sich bringt, leben in dem Bewusstsein, dass du abends da bist und ich deine Nähe spüre. Aber ohne das werde ich ausgelaugt, überanstrengt und bitter. Ich wäre froh, wenn du abends wieder regelmäßig Feierabend machen würdest und wir noch Zeit miteinander hätten, bevor ich ins Bett falle.“

 

Zwischen aktuellen und alten Gefühlen unterscheiden

Viele unserer Gefühle treten nicht spontan und erstmals auf, sondern haben eine Vorgeschichte. Mein Onkel war herrschsüchtig und machthungrig, entsprechend wenig Kontakt hatten wir. Aber jetzt ist er alt und es blitzen immer wieder liebevolle Züge an ihm auf. Ich möchte diese „neue Zeit“, die wir geschenkt bekommen haben, um Schönes und Überraschendes an ihm zu entdecken, nützen und ihn nicht auf seine alte „Rolle“ festschreiben. Ich darf mir also die Freiheit geben, nicht mit den „alten“ Gefühlen auf bestimmte Situationen und Personen zu reagieren, sondern ich darf neue Gefühle zulassen; ich bin ein freier Mensch, der sich entscheiden kann, anders, neu, ungewohnt zu reagieren.

 

Schlag oder Chance

Gefühle sind in der Regel abhängig vom Denken. So kann ich ein Stück weit lernen, einen „Problem-Blick“ zu entwickeln – oder den „Geschenke-Blick“. Mutter Teresa forderte ihre Schwestern gerne auf, statt dem Wort „Problem“ das Wort „Geschenk“ zu benützen. Versuchen Sie das mal! Ich finde, es gibt eine deutlich entspanntere Sicht auf Probleme, wenn ich mir sage: „Ich habe da ein Geschenk!“ statt: „Ich habe da ein Problem!“ Sehe ich ein Problem als etwas Negatives oder als Herausforderung und Chance? Wenn Sie unerwartet gekündigt werden, können Sie das natürlich als großes Unglück ansehen – aber auch als Möglichkeit, sich neu zu orientieren und vielleicht etwas völlig Neues zu beginnen. Als die Israeliten Goliath sahen, jammerten sie: „So eine ‚Kampf-Maschine‘, den kann man ja gar nicht treffen!“ David dagegen sah Goliath kommen und sagte: „Der ist so groß, den kann ich gar nicht verfehlen!“

 

Die Stopp-Technik einsetzen

Manchmal hilft nur ein gezieltes Stoppen, wenn die Flut negativer Gefühle über uns hereinbricht. Am besten nicht weiter den Gefühlen nachgehen, sondern innerlich "Stopp" sagen, um dann von einer anderen Perspektive auf die Situation zu schauen. Es tut gut und ist äußerst hilfreich, in solchen Situationen still dazusitzen, sich an die Gegenwart Gottes zu erinnern und die Gedanken einfach kommen zu lassen, um sie IHM zu übergeben. Oder um ihn zu bitten, aus seiner Sichtweise darauf schauen zu dürfen. Da gewinnt das Bibelwort „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch Ruhe verschaffen!“ (Mt 11,25) noch einmal ganz neu an Bedeutung.

Überhaupt ist die Gottesmutter – ganz Frau, leidenschaftlich liebende Frau und damit sehr erfahren im Umgang mit Gefühlen – eine sehr gute Wegweiserin durch den Dschungel meiner täglichen Gefühle.

 

Wegweiserin durch den Gefühle-Dschungel

Mir hilft es, mich einmal am Tag auszuklinken und mich bei Maria einzuloggen: Zehn Minuten durch den Wald gehen oder im Garten die Rosen betrachten oder auf dem Sofa sitzen und ins Kerzenlicht schauen und mit IHR ins Gespräch kommen … Das entspannt. Das erdet und lässt den Hysterie-Spiegel sinken und den Freuden-Spiegel steigen.

 

Warum sollten wir uns nicht in kurzen Stoßgebeten über den Tag verteilt an die „gefühls-kompetente“ Frau, die Gottesmutter, wenden und ihr zurufen: „Bitte hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter!“ Oder: „Begleite du mein Kind, ich kann nicht mit ihm gehen!“ Oder: „Lass mich jetzt auf meinen Mann zugehen, nachher ist es vielleicht zu spät!“ Oder: „Zeig mir doch, wie ich mit meiner Tochter reden soll!“ Oder: „Was kann ich Frau S. sagen zum Tod ihres Mannes?“ Oder: „Wie soll ich in dieser Sache entscheiden?“ Maria weiß immer einen Rat und teilt ihn gerne mit uns. Aber dazu braucht es Ruhe und Abstand. Nicht, weil sie nicht zu uns reden würde, wenn es laut und hetzig ist, nein, weil wir es in Turbulenz, Hektik und Lärm nicht hören können.

Die Rückkopplung an sie stärkt den Rücken, macht sicherer – und schon können die Gefühle nicht mehr so ohne weiteres über meinem Kopf zusammenschlagen.

 

Wäre das nicht etwas gerade für die Adventszeit? Mich von ihr anschauen lassen und ihr erzählen: „Gerade beutelt es mich wieder so, ich weiß nicht ein und aus und meine Gefühle spielen Achterbahn. „Bitte setz dich mitten rein und übernimm die Führung, damit ich nicht im Wirrwarr der Gefühle ersticke und falsche Entscheidungen treffe, sondern dorthin gelange, wo Gott mich haben will. ER und du, ihr sollt mich leiten – nicht meine Gefühle!“

 

Aus: BEGEGNUNG, Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 4/2015

www.zeitschrift-begegnung.de

 


 

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