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Perfektionismus

01.03.2021

Von der Selbstoptimierung zum Selbstmitgefühl


Sorry, ich hbae nciht viel Zeit. Ist es okya, wenn ich Inhen mienen Beitarg ohne Korerkturen zusnede? Mahcen Sie das Bsete druas. Dnake im voruas!“

 

Wenn sie diese Zeilen lesen, und ihnen der Gedanke durch den Kopf schießt „Unverschämtheit! Man muss doch immer sein Bestes geben!“, gehören Sie womöglich zu einer Gruppe von Menschen, die zu übertriebenem Perfektionismus neigt.

Sie wären damit nicht allein. Die britischen Psychologen Thomas Curran und Andrew Hill analysierten Daten von mehr als 41.000 Studierenden aus Großbritannien, Kanada und den USA. Sie konnten zeigen, dass zwischen 1989 und 2016 der Perfektionismus unter den neuen Studien-Jahrgängen stetig gestiegen war. Die jüngere Generation erlebt demnach immer öfter die perfektionistisch-drangsalierende Dreifaltigkeit: dass andere mehr von ihnen erwarten, dass sie mehr von anderen wollen - und dass sie sich selbst mehr abverlangen.

 

Wie sich Perfektionismus im Leben zeigt

Sabine F. (41) ist die Freundlichkeit in Person: stets eine Lächeln auf den Lippen, denkt sie an jeden Geburts- und Namenstag ihrer Freundinnen. Wenn sie Besuch hat, bäckt sie einen Kuchen. Hinterher schaut sie akribisch über ihr Sofa und zupft einzeln jedes Härchen weg, das die Besucherin hinterlassen hat. Jetzt noch Janina vom Reitunterricht abholen und danach Jonas zum Fußballtraining bringen. Hektik kommt auf, ihr Mann kommt gleich nach Hause; der braucht eine warme Mahlzeit. Morgens war sie selbst im Büro und hatte eine Überstunde dran gehängt, weil eine Kollegin krank gemeldet war. Als eine Bekannte bekennt „Du bist für mich die perfekte Frau und Mutter, wie Du alles unter einen Hut kriegst, bewundernswert!“, geht ihr das runter wir Öl.

 

Thomas M. (49) scheint das Wort „muss“ erfunden zu haben: immer „muss“ er eine Viertel Stunde vor der vereinbarten Zeit da sein, er „muss“ seine Arbeit 150-prozentig machen und natürlich „muss“ er nachgeben, wenn ein Kollege mit ihm den Dienst tauschen will. Dabei hat Thomas M. ständig ein „Brummen im Kopf“, er leidet unter Schwindelgefühlen, Schweißausbrüchen und Herzrasen. Zusätzlich belasten ihn sorgenvolle Gedanken, wenn er nachts wachliegt: „Ich werde meinen Job verlieren, wenn ich diese Aufgabe nicht perfekt erledige.“ Er hat Angst, Fehler zu machen. Wenn andere schlecht über ihn denken, kann er das nur schwer aushalten. Dann kommt ihm der Spruch eines Lehrers in den Sinn: „Aus Dir wird nie etwas!“

 

Was Perfektionismus eigentlich ist

Perfektionismus ist ein Phänomen, das an die Parabel „Die Blinden und der Elefant“ erinnert. Die kennen Sie sicher. Einige Blinde untersuchen einen Elefanten, um buchstäblich zu begreifen, was dies wohl für ein Tier ist. Einer betastet den Rüssel und ruft aus: „Aha, ein Elefant ist wie eine Schlange!“ Ein anderer fasst an einen Stoßzahn und meint: „Der Elefant scheint mir eher wie ein Speer zu sein.“ Jener Blinde, der ein Ohr zu fassen bekommt, meint dagegen: „Nein, ein Elefant ist - ganz klar - wie ein großer Fächer.“

 

Tatsächlich gibt es in der Wissenschaft keine einheitliche Definition des verbreiteten Persönlichkeitszuges. Klar ist, Perfektionismus hat eine Annäherungs- und eine Vermeidungs-Komponente. So streben manche Menschen, wie Sabine F., „nach dem Maximalen und Makellosen, danach, die Dinge immer noch besser zu machen als bisher“, sagt der psychologische Psychotherapeut Nils Spitzer. Andere wiederum versuchen durch ihr fast zwanghaftes Tun und Machen, Kritik und Ablehnung durch andere auszuschließen: „Der Perfektionist will nicht in erster Linie die Natur zur Entfaltung bringen, sondern giert nach Sicherheit“, ist der Psychiater Raphael M. Bonelli überzeugt. Auf Thomas M. trifft das sicher zu. Kein Wunder also, wenn Menschen, die sich im getriebenen „Muss-Modus“ befinden, ihr Leben als wenig lebenswert erleben. Hinzu kommt, dass diese ewig 150-Prozentigen mit ihrem Angst motivierten Verhalten auch ihrer Familie gehörig auf die Nerven gehen.


In der psychologischen Wissenschaft unterscheidet man drei Formen des Perfektionismus. Vom „
selbstgerichteten Perfektionismus“ spricht man, wenn man sich selbst, wie Sabine F., hohe Maßstäbe setzt. Solche Streber greifen nach den Sternen der Vollkommenheit. Dabei haben sie eine strenge „innere Kritikerin“ in ihrer Psyche sitzen, die sie dauerhaft ermahnt. Beim „sozialen Perfektionismus“ erscheinen die Betroffenen nach außen hin übertrieben angepasst. Wie Thomas M., der seit seiner Jugend versucht, es jedem Recht zu machen. Erinnern Sie sich, was sein Lehrer einst zu ihm sagte? Im Grunde hat er den Pauker verinnerlicht, der nun als „innerer Antreiber“ fungiert. Vielleicht kennen Sie auch Menschen aus Ihrem Umfeld, die einen „außengerichteten Perfektionismus“ praktizieren. Diese Zeitgenossen stehen einem ständig auf den Füßen, weil sie möchten, dass man ihre übertriebenen Ansprüche übernimmt. Diese Leute geben einem das Gefühl, „nur von begriffsstutzigen Idioten umgeben“ zu sein, sagt der Psychologe Nils Spitzer.


Was uns locker werden lässt

Ein Persönlichkeitsstil, der den Stempel des Perfektionismus trägt, entsteht in Kindheit und Jugend. Genetische Veranlagung und Erziehung spielen dabei gleichermaßen eine Rolle. In der alltäglichen Auseinandersetzung mit Menschen, die uns am nächsten stehen - Eltern, Großeltern, Geschwister, Freunde - entwickelt sich allmählich die Persönlichkeit. Einer Studie zufolge hängt Perfektionismus eng zusammen mit Introvertiertheit (in sich gekehrt sein), emotionaler Labilität (nervös sein, grübeln), geringer Verträglichkeit und großer Gewissenhaftigkeit.


Wenn Perfektionismus zu einer Gewohnheit geworden ist, braucht es Zeit, um diese zu verändern. Man kann vom Modus des „getriebenen Tuns“ in den Modus des „gelassenen Seins“ kommen, wenn man Selbst-Mitgefühl trainiert. So ist es hilfreich, wenn ich
Selbstfreundlichkeit übe. Statt mit mir ins Gericht zu gehen, stelle ich mir vor, wie Jesus mir begegnen würde. Ob er mich ablehnen würde ob meines Perfektionismus? Natürlich nicht, er würde mich annehmen, so wie ich bin und mich in den Arm nehmen. Deswegen sage ich mir: „Ich nehme mich so an, wie ich bin!“

 

Als nächstes erinnere ich mich an das gemeinsame Menschsein und mache mir klar, dasseine Menge Leute unter krankhaftem Perfektionismus leiden. Einer Studie zufolge waren schon vier Prozent der Deutschen schon einmal wegen eines Burnout-Syndroms bei einem Arzt oder Psychotherapeuten in Behandlung, das sind mehr als 3 Mio. Bundesbürger und Bundesbürgerinnen! Wir sitzen alle in einem Boot: „Nobody is perfect!“

 

Als grundlegend für das Selbst-Mitgefühl hat sich eine Haltung der Achtsamkeit erwiesen. Während der Perfektionismus fordert „Es muss immer alles perfekt sein!“ und dabei sorgenvoll in die Zukunft starrt, empfiehlt die Achtsamkeit „Akzeptiere, was ist - und lass los!“- und verweilt kurz im Hier und Jetzt. Etwas akzeptieren heißt nicht, etwas gut finden. Es heißt aber, bereit zu sein, den inneren Widerstand aufzugeben. Das führt auf die Dauer dazu, dass man weniger leidet. Denn einer Formel des Meditations-Lehrers Shinzen Young's zufolge gilt:
Leiden = Schmerz x Widerstand.

 

Die Psychologieprofessorin Kristin Neff verweist auf eine Vielzahl segensvoller Wirkungen des liebevollen Umgangs mit uns selbst: „Menschen mit Selbst-Mitgefühl sind nicht so ängstlich, leiden weniger unter Depressionen und neigen weniger oft zu Stress. Sie sind nicht so perfektionistisch und verurteilen sich nicht ständig dafür, dass sie einen Fehler gemacht haben.“

 

In der Nachfolge des charismatischen Pädagogen P. Josef Kentenich darf ich Ihnen versichern: „Der himmlische Vater will keine perfekten Kinder, er wünscht sich (sich selbst) liebende Kinder!“

Bücher zum Thema

Bonelli, Raphael M. (2018). Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird. München: Pattloch.
Spitzer, Nils (2017).
Perfektionismus überwinden. Müßiggang statt Selbstoptimierung. Berlin: Springer.
Altstötter-Gleich, Christine & Geisler, Fay (2017).
Perfektionismus. Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben. Köln: Balance Ratgeber.

Neff, Kristin & Germer, Christopher (2019). Selbstmitgefühl. Das Übungsbuch. Freiburg: Arbor.


 

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