Junge auf dem Trampolin © K. Glas

Vertrauen

20.10.2009

Der Theologe Henri Nouwen erzählt über eine Begegnung mit Zirkus-Trapezkünstlern. Der Leiter der fliegenden Gruppe erklärt ihm:

 

„Als Luftspringer muss ich absolutes Vertrauen auf den haben, der mich auffängt. Sie und das Publikum halten vielleicht mich für den großen Star am Trapez, aber der wirkliche Star ist John, mein Fänger.

 

Er muss für mich im Bruchteil einer Sekunde parat sein und mich aus der Luft angeln, wenn ich im hohen Bogen auf ihn zufliege."
„Wie klappt das immer?", frage ich zurück.
„Nun, das Geheimnis besteht darin, dass der Flieger nichts tut und der Fänger alles! Wenn ich auf John zufliege, muss ich bloß meine Arme und Hände ausstrecken und darauf warten, dass er mich auffängt und sicher auf die Rampe zurücksetzt."
„Und Sie tun dabei nichts!", erwiderte ich ziemlich überrascht.

 

„Nein, gar nichts," wiederholte er. „Das Schlimmste, was der Flieger tun kann, ist nach dem Fänger greifen zu wollen. Aber ich soll ja nicht John auffangen, sondern er mich. Würde ich nach Johns Handgelenken greifen, könnte ich sie brechen, oder er könnte die meinen brechen, und das wäre für uns beide das Aus! Ein Flieger soll nichts als fliegen, ein Fänger nichts als auffangen; und der Flieger muss mit ausgestreckten Armen völlig darauf vertrauen, dass sein Fänger im richtigen Augenblick nach ihm greift."

 

In: Henri J.M. Nouwen (1998), Die Gabe der Vollendung. Mit dem Sterben leben.
Freiburg: Herder.

 

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