Familie, Mainz © K. Glas

Bindungsforschung: Was brauchen unsere Kinder?

20.08.2009

 

Die politische Diskussion um den Ausbau von Krippenplätzen veranlasst uns immer mehr, unsere eigene Position zu suchen und zu finden: Wo stehe ich? Wie denke ich aus meiner bisherigen Erfahrung? Wie handle ich?

 

Was brauchen unsere Kinder?

Deutschland steht am Scheideweg: Geben wir die Erziehung unserer Kinder vollends aus der Hand? Oder sind wir bereit, das Geschenk "Kind" bewusst in unser Leben einzubinden und ihm die Sicherheit zu geben, die es für seine Entwicklung so notwendig braucht und die ihm niemand so geben kann wie die Familie?

 

Anfang Mai dieses Jahres (2007) besuchte ich in Frankfurt das Forum "Weniger Staat - mehr Eltern", initiiert vom "Familiennetzwerk Deutschland", einem Zusammenschluss von Eltern, Pädagogen, Juristen und Familiengemeinschaften. Ich fand die Tagung sehr interessant und hilfreich und möchte deshalb hiermit einige Eindrücke und Erkenntnisse daraus weitergeben.

 

Operation Verleumdung

Anna Wahlgren, eine schwedische Mutter von neun Kindern und Autorin zahlreicher Erziehungsbücher, erzählte beeindruckend von der Entwicklung Schwedens: Bis zum Krieg war es für schwedische Mütter keine Frage: Wir gehören nach Hause und kümmern uns um unsere Kinder. Nach dem Krieg wurde Schweden zum reichsten Land Europas - es entdeckte Mütter als "versteckte" Arbeitskräfte. Daraufhin begann die "Operation Verleumdung". Mütter wurden zu nutzlosen Fossilien, zu Schmarotzern der Nation erklärt, die sogar schädlich für ihre eigenen Kinder seien, weil sie nur zu Hause sitzen und verblöden würden ... Mütter wurden fast ausnahmslos in Produktionshallen gejagt. Es zählte nur, wer außerhäuslich arbeiten ging. Krippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen schossen wie Pilze aus dem Boden. Eltern und Kinder verbrachten den ganzen Tag getrennt voneinander und konnten ein Leben in materiellem Überfluss führen. Doch die Volkskrankheit Einsamkeit wuchs. Die Scheidungsrate ebenso. Sich selbst überlassene Jugendliche schlossen sich in Banden zusammen, Drogen- und Alkoholprobleme schufen eine ganze Truppe neuer Beraterberufe für Jugendliche, und bei der Selbstmordrate unter Kindern stand Schweden bald an erster Stelle in Europa.

 

In der Zwischenzeit hat Schweden sich entschieden, das Erziehungsgeld an alle Eltern auszuzahlen, damit diese selbst entscheiden können: Bleibe ich zu Hause oder gebe ich mein Kind in Fremdbetreuung? Über die Hälfte aller Mütter entscheidet sich, einige Jahre zu Hause bei ihrem Kleinkind zu bleiben.

 

Ich möchte gebraucht werden

Anna Wahlgren ist überzeugt: Große und kleine Menschen benötigen das Gefühl, gebraucht zu werden, Teil eines größeren Zusammenhangs zu sein, eine Aufgabe zu haben, einen Beitrag leisten zu können für andere. Wir aber hätten Gesellschaften aufgebaut, die den Beitrag von Kindern nicht haben wollen. Unseren Kinder bliebe nur eine Aufgabe: glückliche Verbraucher zu sein. Anstatt die Kinder in unsere Welt mit einzubeziehen, besuchten wir sie hin und wieder in ihrer Welt, falls oder wenn wir gerade mal Zeit dazu hätten.

Wie glücklich ist das Kleinkind, wenn es Mama in der Küche mithelfen darf. Wie wenig interessiert es sich für sein Spielzeug, wenn Papa Rasen mäht oder Mama Fenster putzt. Anna Wahlgren argumentiert: Wenn Müttern zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, hängt das damit zusammen, dass sie meinen, sie dürften das Kind nur noch mit Liebe und Aufmerksamkeit verwöhnen, anstatt ihre Arbeit mit dem Kind zu teilen. Das Kind möchte den Alltag der Eltern begreifen - während die Eltern oft signalisieren: Wir sind nur hier, weil du geboren wurdest.

"Lasst die Kinder mitarbeiten!", fordert Frau Wahlgren energisch, "wenigstens zu Hause und in eurem Umfeld. Schont sie nicht zu Tode! Die große Revolution unserer Gesellschaft würde die Frauen nicht auf den Arbeitsmarkt jagen und nicht nach Hause, sondern würde die Arbeit an die ganze Familie nach Hause zurückgeben."

 

Keine Qualität ohne Quantität

Eva Herman sprach über den berühmten Satz, den Eltern, die beide außer Haus arbeiten, oft anführen: Es kommt auf die Qualität der Zeit an, die man mit seinem Kind verbringt, nicht auf die Quantität. Sie habe oft überlegt, wo hier der Denkfehler liegt. Dann war sie zusammen mit Christa Meves und einer jungen Unternehmerin zu einer Talkshow eingeladen. Die junge Unternehmerin habe genau diesen Satz angeführt, um zu erklären, warum sie den ganzen Tag in ihrem Betrieb arbeiten könne und es vollauf genüge, abends noch zwei Stunden mit ihrem Baby zu verbringen. Christa Meves habe darauf erwidert: Schauen Sie sich diese Behauptung doch mal aus der Sicht Ihres Kindes an. Ihr Kind hat Sie heute während des Tages mindestens 20 mal gebraucht, und Sie waren nicht da. Und jetzt soll es sich plötzlich auf seine Mutter freuen, die ihm die ganze Liebe überstülpen möchte, die sie jetzt gerade für es übrig hat. Vielleicht hat das Baby im Moment aber gar keine Lust auf Mutter, vielleicht spielt es gerade oder ist böse, weil Mutter nicht da war. Es gibt keine Qualitätsbeziehung, ohne dass Mutter und Kind viel Zeit miteinander verbringen.

 

Deutschland verliert die Weiblichkeit

Engagiert meinte Frau Herman: "Mir macht es nicht aus demographischen Erwägungen Angst, wenn Frauen sich gegen Kinder entscheiden. Was mir Angst macht, ist die Aussicht, dass bald die weiblichen Qualitäten aussterben. Schwangerschaft und Geburt lösen in Frauen viele neue Gefühle aus, lösen Weiblichkeit aus. Wenn immer mehr Frauen sich gegen Kinder entscheiden, sterben auch diese weiblichen Qualitäten (trösten, helfen, fördern ...) mit der Zeit aus." - "Wenn Frauen sich selbst dagegen entscheiden", so Frau Herman, "muss ich das akzeptieren. Aber wenn der Staat diese Entscheidung aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten erzwingt, dann müssen wir Frauen aufstehen. In den Diskussionen heißt es immer: Kinder dürfen kein Hindernis für die Karriere der Frau sein, aber nirgends steht geschrieben, dass die Karriere der Frau auch für das Wachstum des Kindes kein Hindernis sein darf."

 

Früh gestresste Kinder

Professor Sir Bolwby machte die Wichtigkeit der Mutter-Kind-Bindung in den ersten Jahren vom medizinischen Gesichtspunkt her deutlich: In der Forschung wurde festgestellt, dass Babys viel Zuwendung brauchen, um sozial kompetente Menschen zu werden. Die Gehirnforschung fand heraus, dass im Alter zwischen 6 und 30 Monaten vor allem die rechte Gehirnhälfte ausgebildet wird. Das ist der Bereich der Intuition, der Emotionen, der Bindungsfähigkeit, der Empathie, also der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Mitgefühl zu entwickeln. Im Alter von ungefähr 33 Monaten verlangsamt sich die Entwicklung dieser rechten Gehirnhälfte und die linke übernimmt. Hier geht es um die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten (Sprache, Erinnerung, Voraussicht). Trennungsschmerz löst beim Kind Stress aus; das konnte durch einen erhöhten Cortisolspiegel, das Hormon, das bei Stress ausgeschüttet wird, nachgewiesen werden. Normalerweise hat jeder Mensch morgens einen hohen Cortisolspiegel, der den Tag über abnimmt. Bei Babys, die abgegeben werden und nun den Trennungsschmerz verarbeiten müssen, bleibt der Cortisolspiegel hoch. Wenn das Gehirn sich an diesen ständig hoch bleibenden Cortisolspiegel gewöhnt, nimmt die Fähigkeit, Emotionen zu steuern, ab. Kurz gesagt: Mama weg - Gehirn meldet Gefahr - Cortisolspiegel bleibt hoch. Irgendwie muss der Stress aber abgebaut werden. Also: schnullern, Haare ziehen, sich in sich selbst zurückziehen oder aufgeregt protestieren - je nach Temperament des Kindes. Unsere Antwort auf Angst ist eigentlich immer entweder Kampf oder Flucht. Doch beide Möglichkeiten sind dem Baby verwehrt. Also benützt es die Abspaltung: Es schaltet seine normale Empfindungswelt ab und dämpft sämtliche Gefühle. Sowohl die Ausbildung der rechten als auch der linken Gehirnhälfte geht deutlich langsamer voran, da das Kind anderweitig beschäftigt ist: nämlich mit der Verarbeitung von Stress.

 

Wie sähe eine gute Krippe aus?

Steve Biddulph, in Deutschland bekannt als Autor verschiedener Erziehungsbücher, widmete sich der Frage: Wie müsste eine gute Krippe aussehen? Sie bräuchte einen Personalschlüssel von eins zu drei. Also: eine Betreuungsperson für drei Kinder verschiedenen Alters: eines auf ihrem Schoß, eines an ihren Beinen und eines, das sich schon freier bewegen und mit anderen spielen kann. Es müsste ständig dieselbe Betreuungsperson anwesend sein, denn ein Wechsel verunsichert und stresst das Kind zu sehr. Die Zeit, die in der Krippe verbracht wird, müsste begrenzt sein, auf keinen Fall ein ganzer Tag. Die Eingewöhnungsphase müsste - in ganz kleinen zeitlichen Steigerungen - über Monate gehen.

"Warum unterstützt der Staat nicht die Familie, sondern Institutionen?", fragte Steve Biddulph. "Es wäre billiger und qualitativ besser, die Familie zu unterstützen."

 

Mütterakademien statt Krippenausbau

Als letzter Referent trat Prof. Dr. Pechstein auf, der als Arzt in der Kinderklinik München langjährige Erfahrungen über gelingende oder hemmende Entwicklungsschritte von Kleinkindern sammelte. Seine Option: Anstatt enorme Summen Geldes in die Neuschaffung tausender von Krippenplätzen zu investieren, die nicht einmal ein einheitliches und ausgereiftes Konzept haben, wäre das Geld besser investiert in

 

- einen familiengerechten Lastenausgleich und die Anerkennung der häuslichen Erziehungsarbeit,  aus der rentenfähige Leistungen erstehen,

 

- differenzierte Mütterakademien zu einer qualitativ guten und schnellen Wiedereingliederung in den Beruf nach den Jahren, die die Mutter bewusst zu Hause bei den Kindern verbracht hat,

 

- eine allgemein zu verbreitende Volksmeinung, dass Kinder klasse sind und Familien alle Unterstützung bekommen sollten, um nach ihrer inneren Stimme selbst entscheiden zu können.

 

Was ich dazu denke

Nach dieser Fachtagung wurde mir noch einmal stärker bewusst, welch wichtige, zukunftsweisende Aufgabe uns Müttern zukommt (das vergisst man ja manchmal, wenn man zum dritten Mal am Tag den Boden aufwischt, zum siebten Mal "Kommt ein Vogel geflogen ..." vorsingen soll, in den unmöglichsten Situationen eine Geschichte erfinden muss und vor lauter Lärm, der gerade abgeht - entweder ein Wutanfall oder ein neu erfundenes Spiel - nicht mehr telefonieren kann).

 

Natürlich bleibt immer noch die Tatsache bestehen, dass manche Kinder besser in Krippen aufgehoben wären, weil sie Eltern haben, die ihnen keinerlei Aufmerksamkeit zukommen lassen (können). Aber warum sollten wir uns an diesen Extremfällen orientieren? Nur weil es diese Familien leider auch gibt, tun politische Kräfte so, als müssten sie als Retter für alle Kinder auftreten - und verschweigen dabei, dass Einzelerziehung im Raum der Familie der Entwicklung eines Kindes förderlicher ist als das Aufwachsen vieler gleichaltriger Kinder in einer Krippe.

 

Toll war bei dieser Tagung, zu sehen, wie viele Menschen sich engagiert für "mehr Familie" einsetzen. Wenn auf der einen Seite der Staat zugreifen möchte, stehen auf der anderen Seite Menschen auf, um durch fundierte Forschung und kompetentes Sich-Einschalten in die Politik ein Forum zu bieten, bei dem man sich als einzelne/r Mutter / Vater / Familie anschließen kann. Auf diese Weise können eigene geringe Kräfte (man fragt sich ja oft, was kann ich schon erreichen?) einen Multiplikationsprozess bewirken, der von den Politikern gehört werden und hoffentlich manche ungute Entwicklung stoppen oder mildern kann.

 

Was ich mir neu vorgenommen habe

Ich werde regelmäßig in die Internetseiten www.familie-ist-zukunft.de schauen, um Informiert zu sein und bei Abstimmungen über fragliche Gesetzesentwürfe gegenstimmen zu können. (Da inzwischen 50 000 Eltern auf diese Seite zurückgreifen, scheint dieser Prozess ganz gut zu klappen ...)

 

Ich will von meiner wichtigen Aufgabe als Mutter überzeugt sein und mir nicht von vermeintlichem Fachpersonal einreden lassen, es könne meine Kinder besser als ich selbst betreuen.

 

Ich will immer und überall - soweit der Mut reicht - die unersetzliche und frohmachende Aufgabe der Mutter vertreten. Ich will andere Verunsicherte bestärken, auf ihre innere Stimme zu hören und wenigstens drei Jahre gerne jedem Kind zu widmen.

 

Die Panikmache: "Nach den drei Jahren - und bei mehreren Kindern werden es ja oftbis zu zehn Jahren - kommst du nie mehr in deinen Beruf rein!" werde ich mit einem überlegenen Lächeln quittieren und dabei sicher sein: "Das werden wir erst mal noch sehen! Jetzt mache ich auf jeden Fall erst mal Karriere als Familienfrau. Mit diesen gewonnenen, unersetzlichen Erkenntnissen und Erfahrungen wird sich mancher Arbeitgeber die Finger nach mir lecken."

 

Ich möchte täglich beten, dass der Heilige Geist uns Frauen und Familien leitet, dass wir uns nicht von Politikerreden und kurzlebigen Erfolgen blenden lassen, sondern bereit sind, unser Potential ein paar Jahre intensiv in die Familie zu stecken, um es dann - wenn unsere Kinder größer sind - wieder in unseren Beruf investieren zu können. Und ich bete besonders für die Frauen, die wegen ihrer Einstellung von anderen angegriffen oder als dumm hingestellt werden.

 

Ich spüre für mich immer mehr: Je besser es mir gelingt, einmal am Tag bewusst Raum für Gott und die Gottesmutter zu schaffen (abends oder nachmittags zwischen zwei "Spielorgien" - und wenn es nur sieben Minuten sind), desto besser kann ich meine Prioritäten den Tag über setzen und gelassen, geduldig und humorvoll bleiben: für meine Kinder, meinen Mann, Telefonanrufe, Unvorhergesehenes oder Ehrenämter. Und ich hoffe, ich erkenne dadurch auch, was politische Meinung ist, die man uns aufdrücken will und die "frau" einnehmen muss, um "im Trend" zu sein - gegenüber dem, was Gott Großes in uns Frauen hineingelegt hat, das uns und unserer Familie gut tut, wenn wir es herauslieben.

 

Claudia Brehm
Aus: BEGEGNUNG - Zeitschrift aus Schönstatt für Frauen, 3/2007

www.zeitschrift-begegnung.de


 

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